Ralf Wendt

Freie Radios

Kennen Sie den »denkbar großartigsten Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens«? – Dass Bertolt Brecht damit vor über 75 Jahren in einem Aufsatz tatsächlich das Radio meinte, mutet beim »durchhörbaren Rotzebrei« (Thomas Blum, Jungle World 47/08), der einem dort täglich um die Ohren gehauen wird, fast schon wie ein schlechter Scherz an. Redakteure und Wellenchefs der Rundfunkanstalten hierzulande sind vernarrt in die Vorstellung, dass Hörfunk ein überall erreichbarer Service ist. Als logische Konsequenz wird das kleinste zumutbare gemeinsame Vielfache gesendet: Musik, die durch den Alltag dudelt und – quasi zusätzlich – Informationen über das Wetter, den Verkehr und das tagesaktuelle Geschehen, möglichst kompakt und schnell verdaulich. Ambitionierte Sendungen, die sich nur an einen Teil der Öffentlichkeit wenden, sind eine aussterbende Spezies. Es gab und gibt sie natürlich, nachts, in den großen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten – warum auch nicht? Auch dies gehört zum Service: gute Musik; die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden. So sind diese Musik-Specials zu einer Art Feigenblatt und zugleich Überbleibsel einer vergangenen Generation von Radio-MacherInnen geworden, aber selbst dieses nächtliche Refugium wird schmaler und karger: Ende 2008 wurde eine der wenigen Musik-Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk eingestellt, die noch zu überraschen wusste. Wer sich die Artikel und Nachrufe über das Ende von Klaus Walters Der Ball ist rund bei HR3 anschaut, bekommt möglicherweise das Gefühl, dass das eigene Radio überflüssig geworden ist. Kommt ja eh nichts mehr für »Menschen mit Verstand und Geschmack«, resignierte etwa Thomas Blum. Was wir hier bedauern, ist ein ausgeträumtes Modell, das nur durch Verdrängung der medialen Entwicklung so lange in unseren Köpfen überleben konnte. Warum soll der Marktfaktor Aufmerksamkeit denn gerade an den öffentlich-rechtlichen Sendern vorbeigehen? Warum soll ausgerechnet in den von uns allen bezahlten Großunternehmen Radio und Fernsehen das Wort Effizienz keine Rolle spielen? Was erwarten wir denn? Was also heißt jetzt beispielsweise ambitioniertes Radioprogramm? Das wird sich in Zukunft – wenn überhaupt – nur noch im Internet finden, das jedenfalls ist die derzeitige Argumentation. Aber es gibt profunde Skepsis aus der Radiowelt. Moment mal, sagen an dieser Stelle die freien Radios. Sie sind die Nachfolger jener Piratensender, die einst verbotenerweise Frequenzen besetzten. Radios, deren Credo eine Gegenöffentlichkeit war, direkte Kommunikation über bislang Ungesagtes – das Ganze möglichst auch in neuer Form dargeboten. Das waren hohe Ziele, die theoretisch mit einem Ansatz von Hans Magnus Enzensberger unterfüttert wurden: »Jeder Empfänger ist ein potentieller Sender.« Und: »Emanzipatorische Mediennutzung braucht kollektive Produktion anstatt der Herstellung durch Spezialisten.« Dazu gesellten sich Oskar Negt und Alexander Kluge. Sie sprachen schon 1972 in ihrem Werk Öffentlichkeit und Erfahrung davon, mit freien Radios »neue lebendige Verständigungsmöglichkeiten« zu schaffen, den »stummen Zwang der Verhältnisse« zu durchbrechen und damit die »begrifflichen wie sprachlichen Ausdrucksmittel des Protestes« zu erweitern. Gegenöffentlichkeit durch Radio wurde selten klarer formuliert. Warum reden dann aber immer noch alle über die sterbenden Ansprüche im öffentlich-rechtlichen Radio? Vielleicht, weil die freien Radios auch eine Anlaufzeit brauchten: die meisten von ihnen sind nicht älter als 10 bis15 Jahre, alle Machenden arbeiten ehrenamtlich und die Ambitionen sind extrem unterschiedlich. Immerhin zählt der Bundesverband Freier Radios (BFR) 30 Mitglieder, die größtenteils eine legale Sendepraxis und zusammen eine technisch mögliche Hörerschaft im zweistelligen Millionenbereich haben, aber das ist spekulativ – genauso wie die Programmgestaltung. Schon vor zehn Jahren war in der Jungle World zu lesen: »Nicht nur jene, die den Äther bislang als Ort begriffen, um Unwissenden die Boshaftigkeit des Kapitalismus zu erklären und zur wahren Lehre zu bekehren, sind heute in den Sendestudios zu finden. Im Gegenteil: Die Radiostationen sind zum sozialen Ort geworden, an dem von Karriere träumende Techno-DJs mit dem Marx-Engels-Lesekreis aufeinandertreffen, wo Migrantengruppen mit ihrer Community kommunizieren, Antifas gegen Nazi-Demonstrationen mobilisieren, unentdeckte Künstler die Hörer mit ihren neuesten Werken terrorisieren und Fußballfans ihre Wetten öffentlich abschließen (...).« Daran hat sich in den letzten Jahren wenig geändert. Warum also hier noch einmal dieses Fass voller Wunschträume aufmachen, wo es doch eigentlich gerade um den Wegfall ganz realer schon existierender guter Radio-Formate geht? Weil es nicht um das besonders schillernde Angebot geht, das mal Radio Multikulti, mal Der Ball ist rund heißt. Freie Radios sind zu allererst real existierender Freiraum in Zeiten kapitalistischer Zeichenhohheit. Damit wird freies Radio zu einem wichtigen Ort von Fragestellungen: Es sind Projekte, die auf dem Feld öffentlicher Diskussion agieren. Und damit geht es um ganz andere Formen der Kommunikation, als das warenförmige Angebot besonderer Schmeckerlis. Sicher, die Praxis in den freien Radios hat mit diesem Anspruch oft wenig zu tun. Wenn hier Fragen aufgeworfen werden, sind die Antworten meist schon mitgedacht. Zudem greifen freie Radios zu einem hohen Prozentsatz auf Formate zurück, die schnell relativ akzeptabel funktionieren, die allerdings auch in jedem beliebigen privat-kommerziellen Sender zu hören sind. Das alles könnte zu dem ernüchternden Urteil führen, dass der herrschende Diskurs durch die Teilnahme der freien Radios affirmiert wird. Das Ziel, durch Irritationen zu stören und neue Formen der Kommunikation jenseits dieses Diskurses zu entwickeln, erreichen freie Radios in den seltensten Fällen. Eines der wenigen Gegenbeispiele ist »Lignas Musikbox« vom Freien Senderkombinat Hamburg, wo mit Hilfe von Anrufern Musik durch Telefonhörer gespielt wird und Radio als Distributionsapparat »funktioniert«: Stimme, Musik, Geräusch werden zunächst ungerichtet, »gespenstisch« ausgestreut, bis es mehr oder weniger zufällig von HörerInnen aufgefangen wird. Auch beim freien Radio CORAX in Halle geht es um Diskurs. Die Form des Interviews weicht immer häufiger einer Gesprächssituation, die per Anruf, Internet und direkten Studiobesuch ausgesetzt wird und damit fokussiert und trotzdem authentisch wird. Jetzt sollte hier aber ja doch vor allem die Chance der freien Radios beschworen werden. Also dann doch ans Eingemachte. Freiraum und hierarchiefreie Mediennutzung heißt Selbstorganisation, Konsenzprinzip und Basisdemokratie. Bislang scheitert dieser Anspruch schon oft allein deshalb, weil die Radios nicht im luftleeren Raum senden. Sie sind einer direkten Konkurrenzsituation zu den anderen Anbietern auf UKW ausgesetzt, sie senden 24 Stunden am Tag, das heißt wenigstens eine Organisation alternativen Musikzuganges, es heißt Mobilisierung von mündig handelnden Menschen, sich mit den Besonderheiten technisch vermittelter Kommunikation auseinanderzusetzen, es heißt nicht zuletzt die technische Absicherung all dieser Bemühungen im Sinne eines zuverlässigen Senders – wie gesagt, mit extrem begrenzten Ressourcen. Der (quasi kapitalistische Radio-)Alltag erfordert auf dieser Ebene oft schlicht einfaches und gremienfreies Handeln. Eine Diskussion über diese eigene Praxis, diese Form des Selbstbetrugs, ist notwendig und geschieht dennoch nur in einem kleinen Kreis von Akteuren der freien Radios. Die meisten Sendungsmachenden bekommen davon nichts mit – ganz zu schweigen von den Hörenden. Bei aller großartigen Chance auf etwas Anderes im Radio steht hier also vor allem ein großes Fragezeichen: Wie kann eine relevante wahrzunehmende Alternative der Radio-Kommunikation hergestellt werden? Die Hoffnung, die Gesellschaft durch das Senden anderer Inhalte zu mobilisieren, womöglich zu verändern, greift sicher zu kurz. Es sollte eher um die Kraft des Mediums als soziale Praxis gehen. Das selbstverständliche Benutzen des Mediums durch ganz verschiedene Akteure der Gesellschaft kann andere Nutzungsformen hervorbringen. Teilöffentlichkeiten sind hier ebenso interessant wie das Radio als Werkzeug, in die gesellschaftliche Praxis einzugreifen. Menschen auf dem Markt oder im Neubauviertel greifen in eine Diskussion mit politischen Oberhäuptern der Stadt ein, Antifa-Demos werden logistisch durch den Sender gesteuert, Überwachungsmechanismen in radiophon gesteuerten Aktionen sichtbar gemacht (Radioballett am Hamburger Hauptbahnhof, Radiotheater Halle usw.). Erinnert sei an die Festnahme zweier Redakteure des FSK (die mehrere Stunden wie Schwerverbrecher festgehalten wurden) und die damit verbundene Verletzung jeder Form von Pressefreiheit während der Räumung des Bauwagenplatzes »Bambule« in Hamburg. In Sachsen wurden die dortigen freien Radios mit einer Geldstrafe bedacht, weil sie einen Demonstrationsaufruf des »Antifa Infoportal Magdeburg« verbreiteten. Radio Flora aus Hannover wurde gar mit der zweifelhaften Begründung »zu geringer Einschaltquoten« die Lizenz entzogen ... die Liste ließe sich weiter fortführen. Am Grad des Gegenwindes zeigt sich die mögliche Relevanz freier Radios. Ein logischer Schritt und zugleich eine Chance ist die Ausweitung Freier Radios ins Internet. Hier trifft man bereits jetzt eine unüberschaubare Masse an Podcast-Angeboten, die zum großen Teil ins buchstäbliche Nichts senden. Doch es gibt eben auch Antifagruppen, die Vorträge veranstalten und diese ins Netz stellen, einen Chaos Computer Club, der seit Jahren regelmäßig über Überwachungstendenzen im Radio informiert, eine Redaktion von Fußballfans, die unter dem Namen »Kopfstoss FM« brillante Sendungen produziert (auch diese Liste ließe sich weiter fortführen) – all diese Sendungen gilt es, im Sinne der freien Radios, zu bündeln, damit letztlich Akteure aus allen Bereichen ein überregionales Mantelprogramm starten, welches dann sowohl auf UKW als auch im Netz zu hören ist. Quasi byte.fm auf einer nicht nur musikalischen, inhaltlichen Ebene und auf UKW. Damit würde möglicherweise auch die Diskussion um die Relevanz des UKW-Radios überflüssig. Bei relevanter Jetzt-Zeitigkeit von authentischer Kommunikation in einer Stadt oder zu einem Thema bekommt die älteste Funktion des Radios neue Kraft – die Selbstvergewisserung: Ich bin. Ich bin jetzt da und ich spiele gewissermaßen mit, und sei es auch nur als Potenz des persönlichen Alltags. All diese Überlegungen konkurrieren direkt mit einer Realität, in der das Radio sich zunehmend als Ort von Angeboten etabliert, die uns nicht selten ratlos zurück lassen. Fragen kann man schließlich auch anderswo stellen – im Kreise der Familie zum Beispiel. Doch bestimmte komplexe Fragestellungen können dort eben nicht beantwortet oder diskutiert werden. Also braucht es doch die öffentliche Diskussion. Öffentlicher Raum allerdings ist rar geworden. Vorbei die Zeit der stundenlangen Diskussionen am Brunnen, vorbei die Zeit der offenen Fragestellungen im Radio (gab es sie je?). Das Radio verweigert seine Potenz als öffentlicher Raum – Verlautbarung statt Gespräch. Kommunikation hingegen zielt per se auf Veränderung – Veränderung von Zuständen, Haltungen, Verhältnissen. Das Mittel der Frage ist dabei nahezu unumgänglich. Es gilt also, den Impuls aufzunehmen, der seit Jahren aus einem ganz chaotischen Feld selbstverwalteter Öffentlichkeit in die etablierte Radiolandschaft hineinfunkt: Freie Radios. Diese müssen sich als Ort von Fragestellungen begreifen, mehr noch, ihre Legitimation rührt daher: Ohne Bezahlung agierende Kommunikationspartner haben eine andere Motivation als Verlautbarung, sie agieren auf einem Feld des Mankos – dem Feld öffentlicher Diskussion und öffentlicher Fragestellungen. Die Zukunft des Radios wird abhängen von der Kommunikationsbereitschaft der Gestaltenden. Der Fokus muss vom Service-Gedanken hin zu einer Möglichkeit offener Fragestellungen verschoben werden. Denn: Das Radio ist öffentlicher Raum, ist der Brunnen auf dem Dorfplatz, der Ort fokussierter Diskussion. Und das ist nur herzustellen unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Akteure unabhängig von deren Fähigkeit, Antworten zu geben. Die Zukunft des Radios wird bestimmt sein von einer Kultur der Fragen – und freie Radios müssen diese stellen.

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