Stephan Weichert

Fukushima ist nicht die Champions League

Fukushima ist nicht die Champions League. Von Stephan Weichert: Als sich die Facebook-Einträge und Twitter-Meldungen von den bürgerlichen Revolutionen in Nordafrika Anfang des Jahres überschlugen, hatte das Radio als Nachrichtenmedium – buchstäblich – das Nachsehen. Auch beim Atomunfall im japanischen Fukushima entzogen die Bilder der Katastrophe im Fernsehen dem gesprochenen Wort die Aussagekraft. Und löste nicht auch die Neuigkeit von der Ermordung des Terroristenführers Bin Laden, die viele Menschen wohl zuerst über das Radio erreichte, bei den meisten den Reflex aus, nach weiteren Informationen und vor allem nach Anschauungsmaterial im Netz zu fahnden? Das Radio scheint nicht nur in Krisenzeiten als Live-Medium und News-Channel abgemeldet. Auch in der generellen Mediennutzung hat es vor allem bei jüngeren Zielgruppen bereits seit Jahren erhebliche Probleme – auch wenn es als Werbemedium erst vor kurzem vom Internet überholt wurde. Medium Nummer eins in der Werbung, aber auch in der Nutzung ist nach wie vor mit inzwischen 223 Minuten täglich: das Fernsehen. Obwohl die Reichweite des Internet fast gleichauf mit der Reichweite des Fernsehens ist, kannibalisieren sie sich nicht – ganz im Gegenteil: Der Fernsehkonsum ist in den vergangenen Jahren eher noch weiter gestiegen, parallel zur Bewegtbildnutzung im Internet. Beim Radio lesen sich diese Daten anders: Zwar schalteten in Deutschland 2010 täglich 58 Millionen das Radio ein – und vor allem Hörer unter 30 bleiben im Schnitt 194 Minuten dabei, sieben Minuten länger als ein Jahr zuvor. Doch diese Zahlen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bedeutung des Radios als Info-Medium dramatisch abgenommen hat. Denn welcher Nutzer würde sich heute noch eine königliche Trauung, ein WM-Eröffnungsspiel oder den Verlauf einer Reaktorkatastrophe freiwillig im Radio anhören, wenn er auf Fernsehbilder und sekündlich aktuelle Informationen im Internet Zugriff hat? Natürlich ist auch der Hörfunk im Netz ebenso vielfältig wie breit vertreten – mit Programmvorschauen, Live-Streams, Podcasts zum Nachhören, liebevoll gemachten Audio-Slideshows, allerlei Social Media Applikationen und übrigens gar nicht mal so wenigen Zusatzinformationen als Text, zumindest bei den öffentlich-rechtlichen Stationen. Doch ist das Radio, dort auf dem Bildschirm, dann nicht mehr Radio, wie wir es seit vielen Jahrzehnten kennen – sondern irgendein Zwitterwesen, das sich mit den digitalen Medien zu etwas Neuem verwachsen hat, das mit dem puren Hörgenuss nur noch wenig gemein hat. „Die Beteiligung an Online-Communitys ist für große Teile der Gesellschaft zur Selbstverständlichkeit geworden“, hat Helmut Reitze, Intendant des Hessischen Rundfunks, vor einiger Zeit einmal gesagt. Die Grenzen zwischen Fernsehen, Radio und Internet seien fließend: „Mit unseren hochwertigen Inhalten, die wir frei und unentgeltlich im Netz bereitstellen“, so Reitze, „kommen wir den Erwartungen der Nutzer entgegen, die jederzeit und überall auf diese zugreifen wollen“. Auch belege die neueste Mediennutzungsstudie von ARD und ZDF, dass es keinen Verdrängungswettbewerb zwischen den drei Massenmedien gebe. – In dieser Feststellung liegt viel Wahres, aber ebenso viel Unwahres: Zwar ist der Gemeinschaftsgedanke auch für viele linearen Medienangebote heute zwingend geworden. Aber das Radio kann nur zum Mitmachmedium abkommandiert werden, wenn es eine ständige aktive Beteiligung einfordert. Und dann ist es eben nicht mehr das Programmedium, bei dem der Hörer einfach einen Drehknopf bedient und informiert wird oder sich berieseln lässt. Was also „den Erwartungen der Nutzer“ entgegenkommt, entfremdet das Radio von seiner Kernbestimmung: dem sinnlich-reflektierten Hörerlebnis. Es macht ihm damit eine seiner wichtigsten Eigenschaften abspenstig, die es gegenüber anderen Massenmedien überlegen machen. Wenn wir etwa an die Berichterstattung über Krisen, Kriege und Katastrophen denken, ist die Gefahr der Bilderabhängigkeit für viele Fernsehredaktionen unvergleichlich hoch. Der 11. September 2001 war so ein Krisenereignis, bei dem die Konzentration auf wenige Bilder des Terrors zuerst in Sprachlosigkeit und wenig später in einen regelrechten „Terror der Bilder“ umschlug, weil immer wieder die gleichen Schleifen vom Aufprall der zweiten Passagiermaschine in den Südturm des World Trade Center gezeigt wurden. Die Macht dieser Ikonografie war am Ende so groß, dass sie die eigentliche Katastrophe überstrahlten und sogar ablösten. Am 11. September dominierte also ganz klar das Fernsehen die mediale Augenzeugenschaft. Damit wurde aber auch der Zwang, solche Ereignisse nur aus der Veranschaulichung durch Bilder heraus erklären und interpretieren zu müssen und auf diese Weise in eine Bedeutungsfalle zu tappen, besonders deutlich – indem nämlich immer wieder Bilder gezeigt wurden, die in ihrem Aussagegehalt nicht unbedingt mit dem übereinstimmten, was die Zuschauer zu sehen glaubten. Das ist jetzt bald zehn Jahre her, aber Ähnliches gilt auch für das Unglück von Fukushima: Auch hier verliehen die Bilder von der Explosion des Meilers im Fernsehen dem Ganzen eine ungewohnte Dramatik, die einige Fernsehkorrespondenten zu Fehlurteilen und Kurzschlussreaktionen verleitete: Das Spiel mit der „German Angst“ wurde seinerzeit zum geflügelten Wort – während die Berichterstattung im Radio eher nüchtern und zurückhaltend war. Abgesehen von der Gewaltigkeit und Allmacht mancher Bildmedien, die nicht nur den Informationsgehalt von einschneidenden Erlebnissen beeinträchtigen, sondern auch unser Erinnerungsvermögen nachhaltig prägen, geht uns auch etwas verloren, das ich das retardierende Überraschungsmoment nenne – ein vermeintliches Paradoxon, das beim Radio fast täglich zu bestaunen ist. Denn gerade bei einigen weltpolitischen Krisen in der jüngeren Vergangenheit konnte man beobachten, dass neben der Fixierung auf Bilder im Nachrichtengeschäft auch die überdrehte Taktung von Informationen zum Dilemma werden kann. Zwar werden wir auch im Radio regelmäßig von Neuigkeiten überrascht, die fast unmittelbar auf den Sender gegeben werden. Aber nur fast. Denn diese Informationen sind in der Regel sorgfältig ausgewählt, nachrecherchiert, überprüft, geschnitten, vertont und anmoderiert, so dass ihnen eine Art professioneller Denkprozess vorausgeht, der den mit Spannung erwarteten Moment zeitlich versetzt präsentiert. Das Ergebnis guten Journalismus eben. Warum diese meist minimale, aber professionell notwendige Zeitverzögerung vielleicht das letzte verbleibende Positivmerkmal des Radios in Krisenzeiten ist, zeigt auch die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit von Nachrichtenquellen. Inzwischen sind Online-Nachrichtenportale wie „Spiegel Online“, Soziale Netzwerke wie Facebook und mitunter auch Mikroblogging-Dienste wie Twitter für viele User das gewohnte Fenster zur Welt – auch deshalb, weil der Großteil der Bevölkerung täglich mit dem Internet arbeitet und ohnehin „online“ ist. Allerdings bleibt genauso unwiderlegbar, dass das Internet seit jeher ein Hort von Gerüchten war, die gelegentlich zu Panik und Ängsten in der Bevölkerung führen und ein Ort, wo die wildesten Spekulationen ins Kraut schießen können. Solange jede x-beliebige Information unkritisch aus dem Netz übernommen wird, kann jede Twitter-Meldung aus Krisengebieten zur Fake-Falle werden. Ob sich das Radio weiterhin in seine Rolle als kommodes Begleitmedium fügt, ist in Zeiten der Allgegenwart mobiler Endgeräte schwer zu sagen. Für viele ist Radio inzwischen allerdings nur noch ein Medium, das genutzt wird, wenn keine anderen Medien technisch verfügbar sind oder genutzt werden dürfen – zum Beispiel während des Autofahrens, beim Jogging oder in Funklöchern. Auch das ehemalige Alleinstellungsmerkmal des Radios, mit geringem Aufwand auch von entlegenen und schwer zugänglichen Orten zu berichten, mag mit der rasanten Entwicklung von Smartphones und Tablet-PCs mit Kamera-, Foto- und Aufnahmefunktion hinfällig geworden sein. Dennoch ist und bleibt das Radio ein relevantes journalistisches Informationsmedium, das sich trotz verschärfter Medienkonkurrenz weiterhin behaupten wird – durch kluge Reportagen, spannende Features, anregende Hörspiele, also all diejenigen Erzählformen, die das viel zitierte „Kino im Kopf“ hör- und erlebbar machen. Nur eines wird das Radio nie wieder sein können: ein primäres Nachrichten- und Live-Medium. Dem Radio lauern aber noch andere Gefahren auf, seinen Wirkungskreis zu verschmälern: Die Medienforschung hat zwar nachgewiesen, dass das Wort – und nicht die Musik! – bei den öffentlich-rechtlichen Informationsprogrammen der Einschaltimpuls ist, weshalb es nach wie vor als journalistisches Medium wahrgenommen wird. Doch die schleichende Informationsverdünnung und Verdummung der gesamten Radiolandschaft mit den „Hits der 1980er, 1990er und dem größten Mist von heute“, die ebenso von chronisch gut gelaunten wie völlig talentfreien Moderatoren präsentiert werden, erschweren es vielen Radiostationen, den eigenen journalistischen Anspruch geltend zu machen. Auch als leidenschaftlicher Hörer muss man schließlich zugeben, dass das Radio, will es diesen Relevanz-Test auch in Zukunft bestehen, sich nicht noch mehr dem Diktat der Quote beugen darf. Es muss sich vom flüchtigen Reiz der Schnelligkeit und der ungeprüften Aktualität lossagen. Und es muss sich auf das konzentrieren, was es im digitalen Zeitalter vielen anderen Medien voraus hat: den echten Luxus, gute Geschichten nicht entlang von Bildern erzählen zu müssen. Gerade die gut gemachten Informationsprogramme dürfen sich den Nachrichten-Sofortismus nicht dadurch erkaufen, dass ihre Berichterstattung genauso redundant, nervös und teilweise überheblich wirkt wie mitunter die des Fernsehens – das würde auch jeden noch so geneigten Radio-Fan in die Untiefen des Internet treiben. Die Agenturticker-Manie während Fukushima war jedenfalls ein schönes Gegenbeispiel dafür, dass eine Kernschmelze nicht den gleichen dramaturgischen Regeln folgt wie ein Champions-League-Finale. Und genau diese Binsenweisheit sollte das Radio auch weiterhin beherzigen.

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