Was ist bloß aus dem Sommer geworden?
Die Rede ist hier ausnahmsweise mal nicht vom Wetter - auch wenn der
Dauerregen Thema genug für eine eigene Kolumne wäre. Wobei, wem wäre
damit gedient? Worin bestünde der Erkenntnisgewinn? Aus dem Fenster
gucken und dem Prasseln lauschen kann schließlich jeder selbst.
Hier soll es um eine Begleiterscheinung von Sonnenschein und Urlaubszeit
gehen, die in diesem Jahr konsequenterweise gleich mit ausfällt, Anfang
September muss man wohl sagen: ausgefallen ist - das Sommerloch, auch
Saure-Gurken-Zeit genannt. Das Sommerloch ist eine für Journalisten
ambivalente Angelegenheit: Einerseits behelligt man seine Leser, Hörer
und Zuschauer nur ungern mit aufgebauschten Nichtigkeiten, andererseits
muss doch auch irgendwann mal Schluss sein mit dem Rattenrennen der
Nachrichten. Zumindest für ein paar Wochen, damit Sender wie Empfänger
dieser Nachrichten mal durchatmen und ihr Hirn durchlüften können.
Lustigerweise spielen viele Sommerlochgeschichten der vergangenen Jahre
genau dort, wo wir bei 35 Grad Celsius am liebsten sind: am Wasser bzw.
darin. 1994 etwa machte der ausgebüchste Brillenkaiman "Sammy" eine
Kleinstadt bei Düsseldorf unsicher -„Das Ungeheuer von Loch Neuss“ oder
„die Bestie vom Baggersee“ nannten ihn die aus dem Sommerdämmerschlaf
gerissenen Boulevardmedien. Die Suche nach Sammy trieb obskure Blüten:
der damalige Innenminister von NRW setzte sich für das kleine Krokodil
ein und ein eigens gegründeter Fanclub forderte die Abschaffung der
Todesstrafe für Kaimane. Es folgten in der Reihenfolge ihres Auftretens:
die Killerwelse Kuno und Hugo, der in einen Traktor verliebte
Höckerschwan Schwani, die in ein Tretboot verschossene Trauerschwänin
Petra und das Krakenorakel Paul.
Auch in diesem Jahr gibt es ein Sommertier, die im bayerischen Landkreis
Mühldorf verschwundene Kuh Yvonne - das dazugehörige Sommerloch ist aber
irgendwie verloren gegangen. Die großen Medienthemen der vergangenen
Wochen zeigten sich unbeeindruckt vom kollektiven Wunsch nach Urlaub,
einer kleinen Verschnaufpause: In Großbritannien wird eine Zeitung
eingestellt, weil die News of the World im großen Stil illegal
Handymailboxen von Verbrechensopfern und Prominenten abgehört hat. Der
Skandal bringt zunehmend auch den Medientycoon Rupert Murdoch und den
britischen Premier David Cameron in Bedrängnis. Nächstes Thema:
MDR-Unterhaltungschef Udo Foht wird suspendiert, weil er in mindestens
einem halben Dutzend Fällen auf Senderbriefpapier Geld von Dritten
eingetrieben haben soll - Amstmissbrauch lautet der Vorwurf. Und dann
wären da noch das Urteil im Kika-Prozess, der zähe, mittlerweile
beigelegte Tarifkonflikt bei den Tageszeitungsredakteuren und die Affäre
um falsch abgerechnete Fördergelder bei der Journalistenvereinigung
Netzwerk Recherche. Fehlt noch was? Bestimmt fehlt noch was.
Wenigstens auf den Axel Springer Verlag ist in diesen wechselhaften
Zeiten Verlass. Nachdem das Springer-Boulevardblatt Bild in den
vergangenen Jahren politische Schwergewichte wie Günter Nooke und Erwin
Rüddel instrumentalisiert hatte, um gegen ARD und ZDF zu polemisieren,
weil sie - kurz gesagt -für zu viele Wiederholungen zu viel Geld
bekämen, werden in diesem Jahr größere Geschütze aufgefahren: 50 bis 60
Fragenkataloge zu rund 20 Themen soll Bild an die ARD gerichtet haben.
Daraufhin machte das Gerücht die Runde, die ARD installiere eine
"virtuelle Medienredaktion" zur Selbstverteidigung. Nein, eine
Anti-Bild-Kampagne sei nicht geplant, erklärte die ARD. "Nervöse
Zuckungen" erkannte die Süddeutsche Zeitung in diesem Dementi.
Nichts ist mehr, wie es war, hieß es nach dem 11. September 2001, der in
diesem Jahr auch schon zehn wird. Das gilt auch und besonders für das
Sommerloch. Es ist weg, aufgefressen von permanenter Beschleunigung, und
kommt wohl nicht wieder. Wer seine Ruhe will, muss sie sich nehmen. Und
selber abschalten, wie es Peter Lustig den "Löwenzahn"-Zuschauern schon
immer geraten hat. Aber bitte frühestens nach dieser Mehrspur-Sendung.