"Mein Äther" von Tom Schimmeck: Warten Sie, ich muss erstmal das Fenster zumachen. Den Verkehr da draußen aussperren. Also Radio. Das war immer meins. Als Kind schon. Ein Kontakt zur weiten Welt. Das Beste: Eine leichte Grippe haben. Nicht zur Schule gehen. Im Bett bleiben. Und Schulfunk hören. Man wurde sogar klüger dabei. Aber das war nicht das Wichtigste. Die Krönung: Neues aus Waldhagen. Eine Endlos-Serie. 30 Jahre lang Bei den Griechen ist der Äther der „obere Himmels“, Sitz des Lichts und der Götter. Aber was da aus dem Radio in der Küche kommt, ist zumeist eher der untere Himmel. Genauer gesagt: Die Hölle All diese allerbesten Mixe und diese immer gleiche „echte Abwechslung“. Mega-Hits im Dauerlauf. So super. Und bester Laune. Hochdruck-Frohsinn. Ganz schnelles Radio. Da wird aufgedreht. Das haut rein. Kommt fett.. Den ganzen Tag nur Party. Das peitscht uns durch den Tag. Nehmen wir mal kurz den Finger aus der Steckdose... Nein. Ich muss nicht immer nur Besinnliches haben. Ich höre auch gerne mal albernes Zeug. Irgendwelche Hits. Und den Verkehrsfunk. Das unterhält mich. Dieser hechelnde Frohsinnsfunk aber ist einfach nur eine Endlosschleife, die Unterdruck im Kopf erzeugt. Einen ganz blöd macht. Die Radiowelt teilt sich grob in zwei Gruppen: Die Aufklärer Und die Zerstreuer Als ich genug von Neues aus Waldhagen hatte, holte ich mir die große weite Welt aus dem Äther. Drehte an der Skala. Und begann zu ahnen, wie groß diese Welt ist. Auch wenn ich das meiste gar nicht verstehen konnte. Morgens nach dem Aufwachen: BBC World Service. Da wusste man gleich, was in Timbuktu und Ost-Timor los ist. Dass in Bahrain eine Bombe explodiert ist. Und dass das Klein-Klein um einen herum eben nicht die Welt ist. Was toll ist: Das gibt es alles immer noch. Und viel, viel mehr. Der Äther ist zwar nach unten hin viel breiter geworden. Aber auch nach oben hin viel höher. Mit ein paar Mausklicks kann ich jetzt den Funk beim Landeanflug in Dallas, Vilnius und Montevideo verfolgen. Der Sacramento City Police und San Juan County Fire Dispatch lauschen. Wo ich erfahre, welcher Trottel in welchen Graben gefahren ist. Heute morgen war ich schon in Surinam, Dubai, und auf den Fidschis, bei Bula FM…. Wo sie auch nur Tina Turner hören… Und dann in Istanbul, Athen, St.Petersburg. Wenn ich will, habe ich meine Ohren überall. Kann beim Pferderennen im Kennedy Space Center und im Hongkong Jockeyclub mithören. Die Welt kommt zu mir. Wenn ich sie einlasse. Und wenn ich genug davon habe, mache ich wieder das Fenster auf. Und höre den Autos zu. Oder – in Verkehrspausen – den Vögeln.
Tom Schimmeck
#1945 / O-Ton / mit Geodaten / Dokublog
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