von Dirk Baecker
Hat der Rundfunk einen gesellschaftlichen Auftrag? Historisch kann man diese Frage nur mit Ja beantworten, doch ist sie damit auch prinzipiell beantwortet? Es gab Zeiten, da glaubte man, dass Organisationen wie Behörden, Unternehmen, Krankenhäuser, Schulen, Armeen, Kirchen und eben auch Rundfunkanstalten allesamt einen gesellschaftlichen Auftrag haben. Behörden ordnen das Gemeinwesen, Unternehmen versorgen mit Produkten und Dienstleistungen, Krankenhäuser heilen, Schulen belehren, Armeen verteidigen, Kirchen predigen und Rundfunkanstalten wie auch andere Einrichtungen der sogenannten Massenmedien versorgen mit Nachrichten, Unterhaltung und Werbung. Doch diese Zeiten sind vorbei.
Seit die Folgen von Bürokratisierung, Industrialisierung und Urbanisierung diskutiert werden, müssen sich Behörden der Kritik ihrer Macht stellen, müssen Unternehmen zu Fragen der Arbeitsplatzsicherheit und des Umweltschutzes Stellung nehmen, gelten Krankenhäuser als Orte der Gesundheitsgefährdung, Schulen als Brutstätten der Autoritätshörigkeit, Armeen als kriegslüstern, Kirchen als Orte der Produktion von Angst und Rundfunkanstalten als Propagandaeinrichtungen. Seit über einhundert Jahren gibt es einen kritischen Diskurs, der Organisationen ihre negativen Begleiterscheinungen vorrechnet. Diese Organisationen lösen nicht nur Probleme, wie es sich ihr gesellschaftlicher Auftrag vorstellt, sondern sie sorgen für den Nachschub der Probleme, die sie lösen zu können behaupten. Sie sind nicht primär am Erreichen von Zielen, sondern am Nachschub passender Probleme interessiert. Ivan Illich war mit seiner Kritik der Expertenkultur einer der Hohepriester dieses Diskurses, der an der Existenz all dieser Organisationen nichts ändert, sie jedoch unter eine verschärfte öffentliche Aufmerksamkeit setzt.
Es gibt keinen Grund, dem Rundfunk diese Diskussion zu ersparen. Es gibt allerdings auch keine Möglichkeit, prinzipiell auf sie zu reagieren. Selbst wenn der Rundfunk das hohe Lied der Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit singt, kann die Art und Weise, wie dieser Vielfalt Rechnung getragen wird und wie diese Ausgewogenheit hergestellt wird, immer noch als Propaganda gelten: als Propaganda zugunsten einer Vielfalt, die es nicht erlaubt, sich auf einzelne Probleme mit der ihnen gebührenden Radikalität einzustellen. Die Organisationssoziologie hat diesen ungemütlichen Stand der Dinge bereits in den 1960er und 1970er Jahren verzeichnet. Von Charles Perrow, der das bekannte Buch über die „normalen Katastrophen“ der Hochtechnologie geschrieben hat, gibt es einen Aufsatz unter dem Titel „Demystifikation der Organisation“, der die Debatte auf den Punkt bringt. Ebenso ist bekannt, wie Organisationen auf diese Situation reagieren. Sie stellen ihre Selbstbeobachtung um von „Auftrag“ auf „Ungewissheit“. Das ist das Thema eines der letzten Bücher von Niklas Luhmann, „Organisation und Entscheidung“. „Ungewissheit“ heißt, dass jede Organisation die Ziele, an der sie arbeitet, selbst bestimmen und dementsprechend gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigen muss. „Auftrag“ konnte heißen, dass die Ziele der Organisation von der Gesellschaft gesetzt werden und es bei der Organisation liegt, die passenden Mittel zu finden und diese zu rechtfertigen.
Das war eine komfortable Situation, denn mit Blick auf den gesellschaftlichen Auftrag durfte man die eine Hälfte der Diskussion, die Bestimmung der Ziele, für erledigt halten. Wer will schon bezweifeln, dass das Gemeinwesen geordnet, die Wohlfahrt gesteigert, Krankheiten geheilt, Kinder unterrichtet, Kriege gewonnen und Gläubige getröstet werden müssen? Im Rückblick und angesichts der Erfahrung mit kritischen Diskursen sieht man jedoch auch, wie leicht es war, jedes einzelne dieser Ziele ideologisch zu überhöhen und negative Begleiterscheinungen auszublenden. Die Umstellung von „Auftrag“ auf „Ungewissheit“ ist alles andere als komfortabel, aber es ist die intelligentere und nicht zuletzt auch nachhaltigere Option.
Die Umstellung von „Auftrag“ auf „Ungewissheit“ bedeutet, dass Ziele und Mittel laufend neu bestimmt werden müssen. Sie können nur laufend neu bestimmt werden, wenn sich die Organisation intern und extern in einer dauernden Abstimmung mit Mitarbeitern, Publikum und Aufsichtsorganen befindet. Diese Abstimmung ist mühsam, doch ist sie zugleich die Voraussetzung dafür, dass Themen, Stile, Tonfälle und Zuspitzungen sowohl ausprobiert als auch geändert werden können. Die ihrer Ziele und Mittel ungewisse Organisation hat das Privileg, laufend an ihren eigenen Voraussetzungen arbeiten zu müssen. Das schließt Blindheit und Einseitigkeit nicht aus, aber es garantiert eine mitlaufende Beobachtung, der diese Blindheit und Einseitigkeit schließlich auffallen. Die Organisation wird zur Dauerkontroverse. Führung, Leitung und Management werden daran gemessen, wie diese Kontroverse gepflegt wird, zu welchen Ergebnissen sie kommt und welche Schutzräume für die Entwicklung möglicherweise risikoreicher Überlegungen und Innovationen sie bereitstellen.
Für den Rundfunk bedeutet das, dass die aktuelle Diskussion mit allen ihren unangenehmen Begleiterscheinungen einer fallweisen und prinzipiellen Infragestellung von Rundfunkanstalten und Rundfunkgebühren auf Dauer gestellt wird. Öffentlich und privat befindet sich der Rundfunk in einer ungewissen Situation. Seine laufenden Programme konkurrieren mit Mediatheken und Archiven. Radio und Fernsehen konkurrieren mit Kino, Theater, Zeitung und Internet. Öffentliche Gelder konkurrieren mit privaten Werbeeinnahmen. Kleine, ehrgeizige Redaktionen konkurrieren mit großen, etablierten Sendern. Öffentliche Träger konkurrieren mit privaten Sponsoren. Nachrichten konkurrieren mit Unterhaltung und Unterhaltung mit Werbung. Man kann dem Rundfunk diese Situation genauso wenig ersparen wie anderen Organisationen. Man kann das Problem nicht prinzipiell lösen. Es ist historisch gewachsen und ändert sich historisch. Im Windschatten politischer Umerziehungsmaßnahmen nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus war der Rundfunk in Deutschland ein Instrument der Sicherstellung einer ausgewogenen Meinungsvielfalt. Zugleich profitierte er damit von einer politischen Rente, die er nicht rechtfertigen musste. Diese Zeiten sind vorbei. Die aktuelle historische Situation ist eine andere. Liberale Strategien kreuzen sich mit autoritären und kommerziellen. Fast jeden Tag muss und kann die Situation neu bestimmt werden. Wer ist dazu besser geeignet als der Rundfunk?
„Ungewissheit“ bedeutet nicht, dass man jeden Tag von Neuem beginnen müsste. Es bedeutet, dass man im unübersichtlichen Feld öffentlicher und privater Meinungen eine Nische finden muss. In dieser Nische, groß oder klein, bewegen sich Sender und Publikum in einer Schleife. Die Schleife macht sie wiedererkennbar. Hier geht es um so etwas wie Thematik, Stilistik und Rhetorik. Attraktiv bleiben diese jedoch nur, wenn sie nicht nur wiederholt, sondern auch variiert und nicht nur variiert, sondern auch an immer wieder neuen Anlässen ausprobiert werden. Identität ist das Produkt von Schließung und Öffnung. Fast könnte man von einem neuen gesellschaftlichen Auftrag sprechen. Dieser lautet nicht mehr: Erziehe, sondern: Finde dein Publikum. Daran hätten private wie öffentliche Geldgeber ein Interesse. Und niemand wäre wichtiger als Redakteure, die es verstehen, ein Publikum zu finden. Sie haben dazu alle Mittel in der Hand. Wort- und Musikbeiträge, Nachricht und Unterhaltung, Ausführlichkeit und Schnelligkeit, Reflexion und Assoziation können nahezu nach Belieben variiert werden. Und man merkt ja, sobald man einmal angefangen hat, dass das Belieben sich selbst einschränkt. Jedes Rundfunkprogramm tendiert zu seinem eigenen Ungleichgewichtspunkt, an dem Vertrauen auf die eigenen Mittel mit der Arbeit an neuen Themen immer wieder neu ausbalanciert werden können.