Wie das Hörspiel auf den Hund kam

Ulrich Bassenge

Wie das Hörspiel auf den Hund kam. Eine ungehaltene Rede von Ulrich Bassenge   Das Hörspiel ist eine offene Form. Die Hörsensation, die allein den Hörer vom Fernsehapparat weglocken kann, wird realisiert von Autoren, Dramaturgen und Regisseuren. Sie sollen sich stets bewußt sein, dass sie machen können, was sie wollen, dass es für das, was sie ausprobieren wollen, keine Grenzen gibt. Alles ist möglich. Alles ist erlaubt. Das gilt auch für das Hörspiel. (1)   1968 proklamierte Helmut Heißenbüttel in seinem Horoskop des Hörspiels die Freiheit als Programm und das Hörspiel als ihren Inbegriff. Vom Fernsehapparat weglocken muss man heute niemand mehr, das erledigt sich von selbst; dennoch hat sich die Zahl der Gegner des alten Radiogenres erhöht. Zeitfresser wie Mobiltelefon, Streaming-Serien und soziale Netzwerke buhlen um die ununterbrochene Aufmerksamkeit des Konsumenten. Wie sieht es heute mit Heißenbüttels Fahrschein in die grenzenlose Freiheit aus?   In der aktuellen Hörspiellandschaft löst diese Frage zunächst weitere Fragen aus.  Woher stammt das Bemühen, das Hörspiel als Literatur zu kanonisieren bzw. mit Bestsellern zu pimpen? Was zwischen zwei Buchdeckeln wohnt, muss nicht automatisch als Hörspiel funktionieren. Hängt unsere Lieblingsgattung am Tropf des Buchhandels? Ich mache einen Realitätscheck. Die Datenbank Hördat verrät mir, dass die großen Produzenten WDR, SWR, BR und NDR zusammen in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt 128 Originalhörspiele jährlich neu hergestellt haben*. Ihnen gegenüber stehen 96 Literatur- oder Theateradaptionen, das sind drei Siebtel der Gesamtproduktion. Da das Hörspielprogramm der Sender Wiederholungen und Übernahmen aufweist, fallen hier weitere Entscheidungen für oder gegen Originalhörspiele. Ein Beispiel: Beim Blättern im Halbjahresprogramm des NDR finde ich 70 Hörspiele, darunter zahlreiche Bearbeitungen von Romanen, Erzählungen und Theaterstücken. Gut die Hälfte des Programms, nämlich 37, sind Adaptionen. Als Hörspiel-Autor sehe ich das so: 37 Abende, die für Originalhörspiele wegfallen. 37 vertane Chancen auf autonome Radiokunst oder zumindest auf speziell für das Radio geschriebene Texte. Geld, das Hörspielautorinnen und -autoren nicht verdienen. Pessimistisch gerechnet geht mehr als die Hälfte der Honorare und Tantiemen an Leute, die keine Originalhörspiele herstellen. Dafür gibt es Gründe: Arbeit mit Autorinnen und Autoren kostet Zeit. Es gilt, Talente zu entdecken und sie zu betreuen, zumal wenn sie mit dem Medium nicht vertraut sind. Bei bekannten Vorlagen hingegen wissen die Redaktionen, was sie bekommen. Auch intern macht ein existierendes Buch die Arbeit leichter: Selbst die verschlossensten Vorgesetzten geben Gelder frei, wenn sie das Zauberwort „Bestseller“ hören. Obendrein stellen die Verlage ein Hörbuch in Aussicht, auf CD oder digital zum  Download. Sie rechnen sogar damit. Ihr Verkaufsmodell heißt: Bestseller in Zweitverwertung, öffentlich-rechtlich finanziert. Bestsellerrechte sind teuer, dafür aber risikolos. „Bestseller“ ist das anerkannte Codewort für „Natürlich denke ich ProgrammgestalterIn immer an meine Hörer“. Und das übersetzt sich wiederum in die Behauptung: „Unser geliebtes ARD-ZDF-ORF-SRF-Publikum zieht das Bewährte dem Unbekannten vor.“ So gestaltet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels das Rundfunkprogramm mit. In der Folge ist ein Markt für Bearbeiter entstanden. Oft treten hier HörspielregisseurInnen, manchmal DramaturgInnen in Erscheinung. Wer einen Roman oder ein Theaterstück für das Radio „einrichtet“, bekommt annähernd so viel Geld wie ein Autor, sogar die Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaft  Wort sind ähnlich hoch. Wer bei Bearbeitungen ebenfalls gut mitverdient, sind die Zwischenhändler, also Agenturen und Verlage. Ohne Verlag ist ein freier Autor heute nahezu chancenlos: Nur unglaublich selten schafft es seine oder ihre Produktion auf die Vertriebsplattformen der Audioverleger. Paul Plamper, einer der erfolgreichsten Hörspielautoren, hat die Konsequenz gezogen und vertreibt seine Werke und die befreundeter KünstlerInnen gegen Bezahlung über seine eigene Website „Hörspielpark“. Allerdings entzieht er damit die öffentlich-rechtlichen Produktionen dem kostenfreien Zugriff der Allgemeinheit. Denn, das ist meine Meinung: Was mit Rundfunkbeiträgen bezahlt wurde, sollte allen Beitragszahlern verfügbar sein; vorausgesetzt natürlich, dass die Urheber entsprechend honoriert wurden. Deshalb sind Hörspiel-Mediatheken und -Podcasts unbedingt zu unterstützen.*** Als Autor, der seit Jahrzehnten vom Funk lebt, behaupte ich: Dem Originalhörspiel geht es schlecht. Es hat Probleme. Die Ursachen dafür sind nicht nur in der Herrschaft der Verlage zu suchen, sondern auch im geplanten Wegfall von Sendeplätzen und im Kaputtsparen von Produktionsmitteln bei den Sendern. Im Zuge ARD-weiter Einsparungen wurde die Medienkunst spürbar zurückgedrängt, dafür erstarkten die Bestseller- und Klassiker-Koproduktionen mit Verlagen. Ein Radio-Tatort sollte den Hörer vom Fernsehapparat weglocken. Parolen wie „Kino im Kopf“ wurden verbreitet, die die Eigenständigkeit der Kunstform Hörspiel in Frage stellen. In den letzten Jahren verschärften sich die Verhältnisse ein weiteres Mal. Im WDR wurde die traditionsreiche Akustische Kunst weitgehend ihres Etats beraubt; der Sczuka-Preis für Radiokunst existiert zwar weiterhin, aber sein Heimatsender SWR hat das Budget für die Ausstrahlung der prämiierten Klangkunst gekürzt. Der Prix Europa, eine ehemals glanzvolle internationale Veranstaltung, ist mittlerweile undotiert. Da wir hier ja aus dem Nähkästchen plaudern, sei verraten, dass gelegentliche Preisgelder das karge Salär von HörspielmacherInnen beträchtlich aufbessern. Der - wie die Zeitungen schreiben - „renommierte“ Hörspielpreis der Kriegsblinden war übrigens nie dotiert, hatte aber zur Folge, dass das Preisstück von fast allen Sendern übernommen wurde und die  Ausgezeichneten kurzzeitig mal nicht über die Miete nachdenken mussten. Im letzten Jahrzehnt ist dieser Wettbewerb ins Fragwürdige abgedümpelt. Mehrfach wurden Theaterbearbeitungen ausgezeichnet, was klar der Ausrichtung des Preises am Originalhörspiel widerspricht.   Parallel zu diesen desaströsen Entwicklungen hat die Presse das Hörspiel im Stich gelassen. In den fünfziger Jahren forderte sie engagiert und vielstimmig Originalhörspiele, heute lässt sich die Zahl der seriösen HörspielkritikerInnen an einer Hand abzählen; die Einrichtung regelmäßiger Rezensionen ist aus den Tageszeitungen verschwunden, von konzertiertem Jubel über gelungene Hörbuch-Adaptionen einmal abgesehen. Nur die beiden konfessionell gebundenen Medien-Fachmagazine sind noch bei uns. Das war’s leider schon von der Kritik, die sich ansonsten in der Nacherzählung erschöpft. Die neue Sau, die durch unser kleines Hörspiel-Dorf getrieben wird, ist das Serial, natürlich auch als Podcast.  Die Vorbilder sind unverkennbar: amerikanisches True Crime-Fernsehen zum Beispiel. Es lockt der vermeintlich schnelle Erfolg ambitionierter Pay-TV-Serien, produziert von HBO, Netflix und Amazon Prime. Was im Rausch der Nachahmung meist vergessen wird: die Amerikaner beschäftigen nicht nur eine arme Redakteurin und zwei genderdiverse Autoren, sondern ganze Stäbe. Kinder werden geboren, Kameraleute sterben, Präsidenten werden gewählt, während eine Serie entsteht. Ja, die Leute wollen Geschichten. Sie essen Geschichten. Sie sind süchtig nach Geschichten. Und so treibt der Terror der Narration die Hörspielredaktionen vor sich her. Folglich hat das episch-cineastische Ideal die Leerstelle der Bühne eingenommen. Von Fachleuten festivalkompatibel gebürstet, ergießt sich visueller Erlebnisersatz aus dem skandinavischen und angelsächsischen Raum im breiten Strahl über das Auditorium; gepimpt mit infernalischen Subbässen, sechskanaligem Sounddesign und saugeil angefetteten Synchronprofi-Stimmen, nicht zu vergessen das bewährte „Herr der Ringe“- oder „Harry Potter“-Musikkonzentrat als emotion lotion, für das hin und wieder öffentlich-rechtliche Symphonieorchester bemüht werden. Könnte es sein, dass die für das Realismus-Sounddesign-Opulenz-Geballer verantwortlichen ProgrammgestalterInnen ein vom Klang der Sprache, des Geräuschs, des Lautes her gedachtes Werk buchstäblich nicht mehr verstehen? Sind die RedakteurInnen durch lärmende Beschwörung der Optik taub geworden für das Wesentliche der Klangkunst? Die Musik der Wörter, die feinen Nuancen der Metasprache; die Austriazismen bei Ernst Jandl oder Gerhard Rühm, die Bavarismen bei Paul Wührs O-Ton-Gebern, die ripuarischen Schwingungen des Eiffelplatts im Vortrag von Michael Lentz, das sprachliche und nonverbale Tasten in den Versuchsanordnungen von Claude Salmony. Stattdessen theatrale Geschmacksverstärker, so weit das Ohr reicht: Da wird ins Mikrophon gebrüllt, geschnauft, gesäuselt und was die thespische Resterampe sonst noch so hergibt. Noch gibt es Hoffnung, auch wenn nach wie vor aufwendige Krimi- und Klassikeradaptionen fabriziert und bei internationalen Ausschreibungen von den ewig gleichen Juroren in ewigem Recycling hochgejubelt werden. Noch gibt es Hoffnung, auch wenn die Klangkunst in den Archiven öffentlich-rechtlicher Anstalten beerdigt und keine neue mehr bezahlt wird. Noch gibt es Hoffnung, auch wenn die verhängnisvolle Idee grassiert, dass Hörspiel ausschließlich ein Medium für Leute ist, die a) was auf den Augen haben oder b) zu faul zum Lesen sind. Es ist hohe Zeit, dem Treiben Einhalt zu gebieten, das Banner des Original-Hörspiels zu entrollen und folgende acht Punkte zu proklamieren:   1.) Das Hörspiel ist eine offene Form.(2)  Dramaturgie sollte das wieder unterstützen.   2.) Das Hörspiel ist nicht Manuskript, sondern Klangereignis.    3.) Das Hörspiel ist keine Afterkunst des Theaters oder des Kinos.   4.) Die geschulte Stimme ist nicht die Garantin für Aufrichtigkeit. Nicht einmal für Aufmerksamkeit.   5.) Auch O-Töne garantieren keine ‚Wahrheit‘. Aber sie sind ein Anfang. Man hüte sich vor dem Wort ‚authentisch‘.   6.) Lieber ein gutes Feature als ein schlechtes Hörspiel.   7.) Alle Hörspielredaktionen verzichten ein Jahr lang auf ausgebildete Sprecherinnen und Sprecher, um das Klangempfinden zu schärfen.   8.) Alle Hörspielredaktionen senden ein Jahr keine Literaturadaptionen und keine andere Form der Zweitverwertung von Theater, Drehbuch oder Kochbuch.   Zuletzt fordere ich eine Allianz der Lautsprecherkunst von der Lautpoesie über die O-Ton-Montage bis hin zur elektroakustischen und elektronischen Klangerzeugung. Auf uns alle wartet eine eigene ekstatische Welt freier Synapsen, die sich ausschließlich der Verarbeitung akustischer Impulse hingeben, dem Ohrgasmus. Solchem Geschehen steht die Musik naturgemäß näher als die Literatur, die ja vom Buchstabenorgan im Gehirn verdaut wird, seit ein Mönch zum Erstaunen seiner Mitbrüder aufgehört hat, beim Lesen die Lippen zu bewegen.       *Die Recherche ist schwierig, da die Zuordnung in Hördat Fehler enthält. Außerdem sind Mehrteiler schlecht erkennbar. Beim ebenfalls produktionsstarken Deutschlandradio überstieg die Fehlerquote das Auswertbare. Hier wäre das Projekt Hördat auf aktive Unterstützung der Sender und Macher angewiesen.   **Selbstverständlich bedürften diese willkürlichen Stichproben einer medienwissenschaftlichen Untersuchung, die den Rahmen des Artikels sprengt. Sie müsste die Hörspiel- und Klangkunstproduktion aller ARD-Anstalten, dazu den Deutschlandfunk sowie SRF, ORF und den Rundfunk der DDR über die letzten 70 Jahre einbeziehen. Um ein genaues Bild zu erhalten, ist außerdem zu berücksichtigen, dass sich Sendeplätze und Hörspiellängen immer wieder verändern.   ***Der öffentliche Zugriff auf viele Werke der Hörspielgeschichte ist durch Verlagsrechte blockiert.   1 Helmut Heißenbüttel, Horoskop des Hörspiels, zitiert nach Klaus Schöning (Hg.), Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche. Frankfurt a. M. 1970, S. 27 ff 2   Heißenbüttel, a.a.O.

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