Wie mich Radio auf:hören lehrte

Johannes S. Sistermanns

Wie mich Radio auf:hören lehrte oder so unverzichtbar, unwiederholbar, so einzig        
Seit 1983 arbeite ich als Freischaffender für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Damals entstanden neue radiophone Formen, neue Formate, innheralb der Senderstruktur als auch im öffentlichen Raum. Das hierfür benötigte Budget wurde von den Sendern zur Verfügung gestellt. Sie steigerten sogar noch ihre Budgets für zeitgenössische Musik und Radiokunst, als der einzigen Kunstform, die Radio hervorgebracht hat.  
Im Radio konnte sich, ausgehend von der Öffnung des traditionellen Hörspiels zum ‚Neuen Hörspiel’ durch Klaus Schöning im WDR in den 1970er Jahren, der dann das ‚Studio Akustische Kunst’ gründete, ein neues genuin radiophones Genre etablieren: ‚Ars Acustica’ im SWR, ‚Klangkunst’ im Deutschlandradio, ‚Neue Musik und Klangkunst’ im Hessischen Rundfunk und ‚Hörspiel und Medienkunst’ im Bayerischen Rundfunk. Von diesen Redaktionen gingen weltweite Impulse aus für eine bis dahin völlig unbekannte Kunstform, die sich Anfang der 80er Jahre parallel zu einem etablierteren Neue Musik-, narrativen Hörspiel- sowie Bildende Kunst-Verständnis entwickelte. In der Folge hiervon besetzte der damalige SWF (heute SWR) auch neue mediale Felder, die in das Projekt ‚AudioHyperspaces‘ mündete und damit in erst entstehende und noch unbeschriebene Medienkulturen, für die Radio der Ausgang war, oder um Radio herum unvorhersehbar kreativ gedeihen konnten.
Die Kreation des ‚Deutschen Klangkunst-Preises’ 2002 überstieg dann das Engagement des reinen Radiomachens von WDR3, der mit Partnern und  Förderern Mitinitiator zu einem nationalen Kunstpreis wurde, den er zusammen mit dem Skulpturenmuseum Marl und der ‚Initiative Hören’ bis 2012 jährlich vergab. Diese Phase lässt sich als die eines geistigen Aufbrechens, einer Auflösungstendenz deterministischer Zuschreibungen in Gesellschaft, Kunst und medialer Informations- und Übertragungstechniken ansehen. Die Schritte von nationalen zu globalen, von analogen zu digitalen, hybriden, virtuellen Medientechnologien erlebten ihre geistigen Anfangskonzeptionen, auch weil der Rundfunk sie mit antrieb. Er trug auch dazu bei,  bisherige Lebens-, Außen- sowie Alltags-Räume zu erkennen und zu erweitern zu neuen Spiel-, Aufführungs-, Ausstellungs- und Hör-Räumen. Zu dieser Zeit gab es beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen breiten common sense, alle diese Aktivitäten auch – ganz oder wesentlich - zu finanzieren.  
Für mich begann Radio schon während des Kompositionsstudium bei Mauricio Kagel an der Kölner Musikhochschule. Kagel selbst war ein Komponist, der  mit und in den Medien Fernsehen, Video sowie Radio arbeitete und den sich neuen Formaten Fernseh- und Videofilm, Hörspiel und dem hieraus später sich entwickelnden radiophonen Hörstück als Potential sich selbstschöpfend zuwandte.     In Kooperation mit Klaus Schöning (WDR) entwickelten vornehmlich experimentell arbeitende Komponisten eine akustischen Kunst, die so in ihrer medialen Einzigartigkeit nur im Radio möglich ist. Pointiert gesagt: Radio wies sich hiermit selbst seine genuine Medialität nach.  
Es war diese Dimension RADIO, die mich als Komponist, Klang- und Performance-Künstler aufmerksam machte auf ein spezifisches Hören in Naturräume hinein, auf Großstadt-Klangszenarien, mich zum ersten mal in einen schalltoten Raum hineinführte. Ich lernte medial zu komponieren, räumlich verstärkt wahrzunehmen, Räume gegenseitig miteinander ins Spiel zu bringen und hierin die reine Abbildung eines mikrofoniert aufgenommenen Raumes durch mehrkanalige Komposition und anschließender quadrophoner, 5.1 sowie Klangdom (ZKM) Wiedergabe zu überkommen. Und Radio lehrte mich die Klänge in der Aufnahme durch Mikrofone anders zu hören.  
In mir etablierte sich verstärkt Wahrnehmungs-Erfahrung: Komponieren beginnt mit dem Hören: inwendiges hören stilles hören berührtes hören erkennendes hören einsames hören entferntes hören philosophisches hören intuitives hören in das eigene Existieren hören dort, wo kein Klang mehr ist einhören aufhören wer aufhört, beendet etwas und: wer aufhört, beginnt etwas, nämlich sein aktives Hinhören   Das Hören ist für mich bereits kompositorische Arbeit. Fragenn stellen sich: wie weit kann ich eigentlich hören? Kann ich weiter sehen als hören? Endes der Klanghorizont mit dem Bildhorizont? - In weiter Landschaft hört mein Hören vor dem Sehen auf. - Auch den Himmel höre ich lange schon nicht mehr, bevor ich sein blau sehen kann Klanghorizont – hier schaut mein Auge Stille Die Strecke zwischen Klanghorizont und weiter entferntem Bildhorizont ist für mein Ohr: ohne Luft, ohne Klang, ohne Stimme, ist stiller Raum, schalltote Landschaft, schweigende Farbe   Das gesamte Klangfeld im Außen von hier bis zum Horizont des Klanges, steht mir als Quelle aller darin vorkommenden Klänge zur Verfügung später dann als Klanggestaltung und dann wieder anders, als Klangwiedergabe.
 
Das Mikrophon: mein Ohr
Einmal angenommen, dass jedes Handwerkszeug die funktionale Verlängerung meines Armes und meiner Hand ist, angenommen, dass jedes Musikinstrument in der Absicht entstanden ist, die menschliche Stimme außerhalb des Körpers neu zu schöpfen oder nach außen zu projizieren. Bei der offensichtlichen Verfehlung dieses Zieles entstehen so wunderbare Projektionen von Klang in Instrumente. Das alles angenommen könnte auch das Mikrophon als der Versuch einer Nachbildung unseres Ohres und einer Erweiterung unseres Hörens gesehen werden. Neuro-physiologisch wissen wir heute, dass wir nicht mit den Ohren hören,  sondern mit dem Gehirn. Das Ohr im Kopf ist Endstation für jeden Klang, jede Musik. Hier findet keine Aufzeichnung statt, die technisch wieder verwertbar und weiter verarbeitbar wäre. Unser Trommelfell ist eine Membran, unser Ohr ein Hohlraum, eine Schnecke, eine Stimmung Millionen feinster Härchen, die vom Saxophon, Klavier, der Stimme, dem Lautsprecher gespielt werden. Unser Innenohr wird noch einmal gespielt und leitet diese Impulse an unser Gehirn weiter. Dieser Hohlraum ist körperlicher Resonanzraum von Distanzen, Panoramen, Räumen, Objekten, beweglichen und stationären Klangquellen. All das ist Klang, der zum einen aus einer materialen Funktion und zum anderen aus einer sozialen Situation entstanden ist. Das Mikro nimmt nur den Klang auf. Die den Klang schaffende materiale Funktion und soziale Situation  kann später wahlweise akustisch zitiert oder assoziiert werden. Den Klang selbst verarbeiten digitale Klangprozessoren. 

Komponieren ist zuerst das Auf:hören und ist im Weiteren die Entscheidung für diesen einen Klang, diese eine Situation und dann das Auf:nehmen. Komponieren beginnt gleichermaßen mit dem Mikrophon: wo früher und heute Komponisten den Bleistift spitzten, vor einem Notenpapier saßen und Instrumentalisten interpretierten. Das Mikro ist der Bleistift, der digitale Chip das Papier, die plug-ins die Vortragszeichen und Spieltechniken und die Lautsprecher sind die Instrumente. Eine Interpretation gibt es dabei kaum mehr. Das Stück wird immer die authentische Fassung des Komponisten sein. Oder vielleicht doch: zum einen sehe ich bei Konzerten, in denen live Klangregie vom Komponisten übernommen wird, eine Interpretation. Zum anderen verändern  die wiedergebenden Lautsprecher - von kleinen eingebauten Computerlautsprecher bis hin zur Wellenfeld’sche Lautsprecheraufstellung - die Klangwiedergabe. 

Das Mikrophon markiert die Schnittstelle/den Übergang vom KlangOrt, vom realen Außenklang zur individuellen Entscheidung des Komponisten, was er durch sein inneres Auf:hören zu seinem Innenklang macht. So trifft er die Auswahl aus den möglichen Millionen Klangereignissen, die jetzt aufgenommen werden könnten. Die Beweggründe dafür liegen im Innenklang des Komponisten. Die Aufnahmetechnik trifft hier auf die jeweils individuelle Disposition: Der digitale Aufnahmechip, die Festplatte dokumentiert diese Entscheidung als Klangspur.  Der über diesen langen, spontanen oder intuitiven Prozess des Auf:hörens schließlich aufgenommene Raum wird jetzt digital verfügbar und bearbeitet. Vielfach genügt dem Komponisten aber nicht dieser digital aufgenommene Raum, sondern er liefert ihm Material zur Weiterverarbeitung oder ist Impuls, diesen Raum als LautsprecherOrt kompositorisch und in der Wiedergabe-Choreographie von zwei Lautsprechern an aufwärts neu zu schaffen.   Lautsprecher und Aufführungsräume sind Interpreten, inhaltliche Mitschöpfer der Komposition. Lautsprecher liefern Klangimpulse, sind luftbewegend und damit klangplastisches Instrument. Der jeweilige Aufführungsraum ist als Hörraum und Bühne der Komposition Membran und Resonanzraum. Wir hören nicht nur der ablaufenden Musik zu, sondern ebenso diesem Raum, der von den Lautsprechern gespielt wird.    
All diese Hör-Fragen, die Arbeit mit Hör-Räumen, die Frage, wie Gehörtes, Aufgenommenes strukturiert werden kann, sind deswegen entstanden, weil es Radio gibt. Radio hat nicht nur mediale, technische oder Verfahrensfragen formuliert. Künstler sind auf Radiomöglichkeiten gestoßen und in Korrespondenz mit dem Medium getreten. Die Künstler haben durch ihre radiophone Arbeit das Radio selbst verändert. Es entstand eine Radiospezifik, die sich manifestierte in Projekt-Ideen Produktionen und Austrahlung. Gleichzeitig  wurde an den Mittler Radio das Bedürfnis nach Unmittelbarkeit,  Intimität und Einzigartigkeit im zugewandten Hören, Lauschen herangetragen. Und hierin treffen sich die Radio-Macher in ihrer Hingabe an die aufgenommene Stimme im Studio, mit dem im Lautsprecher wieder klingenden Instrument,  mit den Sinnen-Räumen der Hörer.    
Waren es zunächst Budgetkürzungen in den oben erwähnten Ressorts, wurden es später nicht wieder besetzte Planstellen, Auflösungen von Redaktionen, gefolgt von Kürzungen der Sendeplätze im Programmschema bis dahin, dass Produktions-Budget nicht mehr zur Verfügung gestellt und dieses ureigene radiophone Genre ganz aus dem linearen Radioprogramm genommen wurden.  

Ich selbst höre seit Mitte der 90er Jahre aus Hörspiel-/Klangkunst-/Neue Musik Redaktionen, dass im jeweils kommenden Jahr nicht mehr soviel Geld zur Verfügung stehe. Jetzt, gut 25 Jahre später, wird weiterhin so argumentiert. Dadurch stellt sich mir die Frage: Wie hoch das Budget damals gewesen sein muss, dass so vieles möglich war, was heute trotzt viel höheren Gebührenaufkommens nicht mehr möglich zu sein scheint., Ich halte die rundfunkinternen Programmentscheidungen in jeder Hinsicht für politisch und nicht nur  finanziell motivierte und vor allem nicht für medial-ästhetische Entscheidungen.   Während Redakteure Budget-Gelder als Umsetzungsmöglichkeiten von Programmideen nutzen wollen, um neu Formate zu entwickeln, gelten sie in den Führungsebenen oft als Instrumente politisch und kulturell ausgerichteter Steuerungsmöglichkeiten.    
Meine künstlerische Praxis und Freiheit ist nicht gefährdet, beeinflusst noch gebunden an Budget, Mittelvergabe, Finanzierungspläne, inhaltich-programmatische Ausrichtungen, politische Entscheidungen von Rundfunkverantwortlichen. Ich liebe das Radio und arbeite auch ohne dieses Medium weiter. Kürzungen von Radiobudgets sowie der Wegfall  von Sendeplätzen lockern und lösen lange gepflegte Arbeitsbeziehungen auf und haben natürlich  Einbußen bei meinen Einnahmen zur Folge. Das Radio wird zu einem Auftraggeber unter vielen und reiht sich ein in die Engagements bei Festivals, Ausstellungen in Museen, Galerien, Konzertreihen national wie international. Das ist ein Fließen und Charakteristikum des freischaffenden Arbeitens. Mir scheint als schade das Medium sich selbst mehr als Künstlern wie mir.  

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk  ist kein Mäzen. Ein Mäzen gibt aus freien Stücken, bedingungslos. Laut Gesetz hat der Rundfunk aber einen Kultur-Auftrag einzulösen. Hieraus generiert sich eindeutig eine Verpflichtung. Die den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten über monatliche Gebühren zufliessenden Gelder sind auch dafür da, Visionen zu schöpfen, ungesichertes Terrain zu betreten, einen Kulturanspruch zu verfolgen und hochzuhalten, der weder nach Mehrheit noch nach Masse streben muss (eine Quote kennt der Rundfunkstaatsvertrag nicht). Was tatsächlich in den 80er Jahren die rundfunkeigene Öffnung eindeutig befördert hat, ist heute für mich nur schwer auffindbar, das Vertrauen in das Unbekannte, das einmal die Voraussetzung war, um Neues zu schöpfen, ist weitestgehend verloren gegangen.  

Ich wünsche mir, dass der Rundfunk sich öffentlich bekennt und auf das setzt, was nur Radio kann: Hörspiel, Ars Acustica, Radiokunst, Radio-Feature, Funkoper. Und über dies mit seinen Klangkörpern (Sinfonie-Orchester, Chöre, Big Bands) die nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk aufzuweisen hat - im Gegensatz zu den privaten Sendern - , für innovative, zukunftsweisende Konzerte und Projekte einsetzt. Nur so bleibt Radio lebendig.    
Johannes S. Sistermanns   2019    

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