Wolfgang Ullrich

Radio als Live Medium

Wolfgang Ullrich: Es wäre mir nichts lieber, als eine Lobrede auf das Radio zu halten. Auf das Medium, dem ich neben meiner Briefmarkensammlung einen erheblichen Teil dessen verdanke, was ich als Kind und in der Jugend gelernt habe. Während die Briefmarken mir Wissen über ferne Länder vermittelten, vor allem aber die Köpfe und Daten wichtiger Persönlichkeiten sowie historische Ereignisse einprägsam machten, war es das Radio, aus dem ich erfuhr, was aktuell passierte. Zu meinen frühen Erinnerungen gehört die Übertragung der Wahl des Bundespräsidenten Walter Scheel im Jahr 1974. Damals war ich sieben Jahre alt und lauschte höchst gespannt. Noch viel spannender war es 1977, als ich während des Deutschen Herbstes gar nicht mehr vom Radio wegkam. Ein paar Jahre später war es dann eher die ARD-Bundesligakonferenz, die ich nie versäumen wollte und die zu den Höhepunkten der Woche gehörte. Mittlerweile nennt man wohl auch vor allem diese zwanzig Minuten am späten Samstagnachmittag, wenn man belegen will, dass das Radio nach wie vor ein Live-Medium von gewisser Bedeutung ist. Insgesamt aber hat es diesbezüglich an Wichtigkeit dramatisch verloren. War es für mich lange Zeit nur deshalb noch der Hauptkanal für aktuelle Information geblieben, weil ich keinen Fernseher besitze, so muss ich zugeben, dass mir das Internet seit einigen Jahren doch viel mehr bietet als alle anderen Medien zusammen – und als gerade auch das Radio. Man kann live in Bild und Ton dabei sein, wenn in Ägypten eine Revolution stattfindet oder wenn in Stuttgart Bahnhofsfragen diskutiert werden. Leute verabreden sich via Web zu Flashmobs oder teilen sich gegenseitig mit, wo sie gerade sind und was sie dort erleben. Und wenn eine Bundespräsidentenwahl ansteht, erfährt man via Twitter das Ergebnis vielleicht sogar schon vor seiner offiziellen Verkündigung. So droht das Radio zum Objekt nostalgischer Gefühle zu werden – kaum anders als jene Briefmarkensammlung, die ich seit langem völlig aufgegeben habe. Und aus der Lobrede wird ein Abgesang. Oder hat das Radio vielleicht doch noch eine Chance? Nur zu gerne würde ich, schon allein aus Dankbarkeit, diese Frage bejahen. Und das könnte so gehen: Das Internet hat sich innerhalb seiner ersten beiden Jahrzehnte als Bild- und noch mehr als Schriftmedium entwickelt. In ihm werden, stärker als jemals zuvor in ihrer Geschichte, Bilder zu Kommunikationsmitteln und Tauschobjekten, in ihm erlebt aber vor allem das geschriebene Wort eine Renaissance und vielfältige, nicht selten originelle Formen der Verwendung. Blogs, Leserkommentare zu Artikeln auf Nachrichten- und anderen Websites und natürlich Web 2.0-Foren sind zu Orten einer neuen Schriftlichkeit geworden. Zudem kehrt mit dem Mailverkehr eine längst tot geglaubte Briefkultur zurück; vieles, was in den letzten Jahrzehnten per Telefon besprochen wurde, ereignet sich nun wieder im Medium der Schrift. Dadurch aber stellt gerade das Radio eine – die einzige – Alternative dar. Aus seiner Beschränkung, keine Bilder und keine Schrift senden zu können und alles in das gesprochene Wort übertragen zu müssen, erwachsen ihm spezifische Möglichkeiten. Erwähnte ARD-Bundesligakonferenz ist dafür das beste Beispiel: Die Reporter verwandeln das Spielgeschehen live in eine eigenständige Form, verleihen ihm durch ihre Deutung und ihre Emotionen eine reflektierte, pointierte, auch überhöhte Gestalt. Sie leisten, was bei den Griechen in Epos und Schauspiel die Mauerschau – Teichoskopie – erfüllte, übersetzen also ein komplexes, gar unverständlich bleibendes Geschehen, das dem Publikum im selben Augenblick jedoch nicht sichtbar ist, in eine anschauliche Sprache – aber eben nicht in Schrift, sondern in hörbare Worte, die ihrerseits zum eigentlichen Live-Ereignis werden. Dies insbesondere dann, wenn der Reporter sachkundig ist und auch in den hektischsten Momenten nicht Übersicht und Verbalisierungsgabe verliert. Das Radio hat also dann eine Zukunft, wenn es mehr Anlässe nutzt, um eine Kultur des gesprochenen Worts zu pflegen. Diskussionsrunden und Streitgespräche sind dafür mindestens ebenso geeignet wie jene Sportreportagen oder auch Korrespondentenberichte aus Krisengebieten. Gerade wenn der Live-Charakter nicht darin besteht, ein Geschehen zeitgleich zu kommentieren, sondern sich daraus ergibt, dass verschiedene Positionen, ähnlich wie in einem Parlament, ausgetauscht werden, ja weil eine Stimme direkt auf andere reagiert, kann eine Lebendigkeit aufkommen, die das Internet so nicht kennt. Selbst wenn dort ein Blogeintrag einem anderen antwortet oder man in einem Chat miteinander kommuniziert, fehlen dem schriftlichen Wort Dimensionen des Ausdrucks, die allein die gesprochene Sprache besitzt. Aber auch gegenüber Talkrunden im Fernsehen sind Radio-Diskussionen überlegen, müssen die Teilnehmer hier doch keine Schminke und keine Scheinwerfer ertragen, nicht auf ihre Kleidung und Frisur achten. Dafür können sie sich ganz auf das verlegen, was sie sagen wollen, weshalb sie bestenfalls genauso frisch, wendig und frei sind wie in einem Gespräch jenseits aller Medien. Damit jedoch besitzt das Radio einen Authentizitätsvorteil, der für eine spezifische Live-Atmosphäre sorgt: Es vermittelt Akte der Spontaneität, emotionale Zwischentöne, gänzlich unartifizielle Sprechweisen. Aber auch das Publikum kann sich beim Radio voll auf das konzentrieren, was gesprochen wird; es ist nicht vom Bild – wie im Fernsehen – oder von den Multitasking-Ansprüchen des Internet abgelenkt. Und so führt die Beschränkung, der das Radio unterliegt, auch zu einer Entlastung. Allein deshalb hat es eine Lobrede verdient.
S. TAZ 14.4.2011

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