Öffentliche Medien als öffentliche Angelegenheit

von Otfried Jarren

Strukturkonservatismus und Widersprüchlichkeit prägen die medien- wie rundfunkpolitische Debatte. Die klassischen publizistischen Medien verlieren an Reichweite und gesellschaftlicher Bindestärke, sie büssen an Entgelten und Werbeeinnahmen ein. Die Finanzierung des Journalismus wird im privatwirtschaftlichen Mediensektor zum Problem. Der finanziell gut ausgestattete öffentliche Rundfunk verliert auch an Reichweite, er ist einer massiven internationalen Konkurrenz (Streaminganbieter) ausgesetzt, auch er büsst bei Publikumssegmenten deutlich ein. Die Krise der privaten Medien nutzt ihm nicht. Aufgrund politischer Vorgaben kann er sich nicht dynamisch entwickeln.  
Pfadabhängigkeit: Das Denken aus der dualen Rundfunkordnung führt zu einer Übertragung auf eine vermeintliche duale Medienordnung. Doch eine nationalstaatliche Medienordnung gab es nie. Es wurde immer nur Rundfunk reguliert. Und neue Internetanwendungungen werden ausschliesslich ob ihrer vermeintlichen „Rundfunkähnlichkeit“ zum Objekt der neuen Regulierung. Das trägt bei Plattformen nicht. Der Politik, die immer nur Rundfunkpolitik war, ist mit den Internetplattformen der Rundfunkbegriff endgültig abhanden gekommen. Da man immer nur den Rundfunk technisch wie rechtlich definiert hat, hat man auf die Definition eines Medienbegriffes verzichtet. Das rächt sich nun, und mit dem Intermediär ist auch noch keine Lösung in Sicht. Mit zahllosen neuen unbestimmten Begriffen wird im Entwurf Medienstaatsvertrag operiert, ohne aber den Blick auf das Medien- oder das sich etablierende  Kommunikationssystem zu weiten. Denn dann kämen auch die Pressemedien in den Blick – was aber nicht sein darf. Und falls doch, so bedürfte es tatsächlich der Begründung für eine Medienpolitik. Unter den Konvergenzbedingungen ist eine vektor- oder medienneutrale Medienpolitik zwar angestrebt, aber ohne ein neues Medienverständnis und neue Leitbilder nicht zu haben.  
Aufgrund dieser verfahrenen Situation fixiert man sich noch mehr als üblich auf den öffentlichen Rundfunk – weil man dort noch etwas anordnen kann. Aber kann man dort noch sinnvoll, gar mit Auswirkung für das gesamte Medien- und Kommunikationssystem, gestalten? Wohl kaum. So bleiben selbst kleinste Organisationeinheiten mit grossen Häusern erhalten, allein aus regionaler Gewohnheit. Das kostet. Mittel für Forschung und Entwicklung hingegen, über die der öffentliche Rundfunk nicht verfügt, fehlen. Ohne Forschung und Entwicklung, so in Plattformen oder Algorithmen, werden die öffentlichen Medienhäuser an Innovationskraft verlieren.  
Die deutsche Medienpolitik ist das Problem des öffentlichen Mediums: Rundfunk wird von der Landespolitik nicht als autonome öffentliche Einrichtung anerkannt, sondern als staatsnaher Sektor verwaltet und kontrolliert. Wie soll sich unter diesen Bedingungen der öffentliche Rundfunk entwickeln – und behaupten – können? Wie können aus den bisherigen Rundfunkanstalten öffentliche Medienhäuser, die vielfältige mediale wie nichtmediale Vermittlungsleistungen für die Gesellschaft erbringen, entstehen?  
Die Massenmedien als bürokratische Grossorganisationen, und dazu zählt der öffentliche Rundfunk, sind herausgefordert. Der individuelle Freiheitsgewinn durch Internet und Social Media ist gross, die Leistungen von Medien werden verglichen und werden neu bewertet. Dank Social Media können Bürgerinnen und Bürger Parteien, Journalisten und Medien umgehen, wenn sie Interessen artikulieren oder miteinander direkt kommunizieren wollen. Und sie können sich mittels der Netzkommunikation auch organisieren. Das Netz senkt die Kosten für jegliche Form der Distribution wie den Austausch von Information und Wissen. Und auch die Organisationskosten sinken deutlich: Rasch, dynamisch können sich Gruppen bilden, Anliegen vorbringen, politische Schlagkraft erringen. Ein hohes Mass an Artikulations- und somit an Veto-Macht haben Einzelne, Gruppen wie Organisationen durch Social Media erlangt. Und davon wird nun Gebrauch gemacht. Was leisten die traditionellen Massenmedien? Verarbeiten sie diesen Input?  
Die traditionellen Massenmedien sind offenkundig zu wenig offen, zu wenig responsiv. Sie erleiden immer stärkere Reichweitenverluste, sie büssen deutlich bei den Jüngeren ein, sie erreichen Zugewanderte kaum. Sie erleiden einen kulturellen wie politischen Bedeutungsverlust, weil man sie weniger denn je für die Artikulation und die Repräsentation von Interessen benötigt. Die Aggregation, die Sichtbarmachung wie die Durchsetzung von Interessen bleibt aber in den Händen spezialisierter Akteure. Zu diesen spezialisierten Akteuren zählen zweifellos die Massenmedien und der Journalismus. Sie sind anhaltend wichtig für die Aggregation von Interessen, für die Schaffung von Zusammenhang, für Diskussionen wie Diskurse, für die Organisation von Teilhabemöglichkeiten, für die Ausgestaltung von sozialen wie politischen Prozessen. Aber sie haben sich noch nicht auf die neue Arbeitsteilung eingestellt, sie tun immer noch so, als seien sie allein da, besonders relevant für alles. Das sind sie nicht (mehr).
Die Massenmedien dürfen sich nicht allein auf das beziehen, was die organisierten Interessen, was die sogenannten gesellschaftlich relevanten Gruppen, von ihnen erwarten oder ihnen zuliefern. Das aber tun sie. Die etablierten Massenmedien, vor allem auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk, sind zu stark auf gesellschaftliche Machtträger und deren Repräsentations- wie Inputanspruch ausgerichtet. Massenmedien verlieren an Reichweite wie Vertrauen, weil sie bezüglich des Inputs nicht hinreichend offen sind. Sie sind bei ihrer Programmleistung zu stark auf Output orientiert. Sie orientieren sich zu stark an den bereits organisierten machtvollen gesellschaftlichen Interessen. Sowohl die Input- wie auch die Outputlegitimität werden hinterfragt: Was greift ihr auf, was vermitteln ihr an uns zurück? Dieses Defizit ist auf die Steuerung des öffentlichen Rundfunks mit zurückzuführen.  
Politisch wie rechtlich soll der öffentliche Rundfunk Systemintegration leisten. Je mehr die soziale Differenzierung zunimmt, desto stärker die Erwartung, dass der öffentliche Rundfunk es richten solle: Integration, Kohäsion. In segmentär differenzierten Gesellschaften, in der immer mehr spezielle Gruppen existieren, kann man aber mit linear verbreiteten Rundfunkvollprogrammen nicht mehr alle erreichen. Zu unterschiedlich sind die Interessen, zu vielfältig das verfügbare Informationsangebot. Die Medienmenus sind hochgradig differenziert. Nötig wird die Sozialintegration durch spezialisierte wie binnenkommunikative Angebote für Gruppen. Durch entsprechende Angebote – personalisiert bis zur Mediathek – kann Wissen bereitgestellt, können Vernetzungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Die öffentlichen Medien müssen sich mit den Anforderungen, die sich aus der segmentär differenzierten Gesellschaft ergeben, befassen dürfen.  
Der öffentliche Rundfunk soll zwar der Rundfunk der Gesellschaft sein, und er soll sich weiter entwickeln, aber dazu wird keine Debatte initiiert – weder von der Landespolitik, den politischen Parteien noch den Gremien der öffentlichen Rundfunkunternehmen. Doch die Gesellschaft muss diese Institution verstehen und sodann akzeptieren können. Der Einbezug der Nutzerinnen und Nutzer wird vordringlich. Der öffentliche Rundfunk stellt sich nicht der Diskussion. Er sieht sich, im besten Sinne, durch das Bundesverfassungsgericht wie die Politik geschützt. Eine allgemeinöffentliche Rechenschaftspflicht gibt es (deshalb) für den öffentlichen Rundfunk nicht. Die Rechenschaftspflicht gegenüber den Gremien genügt. Das ist unzureichend.    
Es sind aber nicht nur die grossen Themen, es sind auch die alltäglichen Prozesse, die unter Ausschluss von Öffentlichkeit stattfinden. Kurz: Die Responsivität der in den Rundfunkgremien vertretenen Organisationen ist selbst in diese Organisationen hinein, aus denen die Vertreterinnen und Vertreter stammen, kaum vorhanden. Transparenz wie Rechenschaftspflicht gegenüber anderen Gruppen oder der Gesellschaft – Fehlanzeige.  
Es geht nicht nur um Transparenz oder Rechenschaftsablegung als formale Anforderungen, sondern um das Wissen über die Funktionsweisen wie Leistungen von Journalismus wie Medien. Wie soll Medienkompetenz entstehen, wenn selbst bei den öffentlichen Medien keine Diskussion, keine Debatte geführt werden kann und wenn man von der publizistischen Kultur nichts weiss?  
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk droht, wenn man ihn nicht aus der politischen Begrenzung befreit, immer mehr zu einem staatsnahen Sektor zu werden. Dieser Eindruck hätte legitimatorische Konsequenzen. Der Staats- und Parteieneinfluss muss schwinden, die Autonomie der Organisationen des öffentlichen Rundfunks muss wachsen – damit sie sich zu öffentlichen Medien entwickeln können.   Das praktizierte Modell ist nicht auf eine dynamische, offene Gesellschaft, ist nicht auf Wechsel wie Wandel, ist nicht auf den andauernden wie grundlegenden Streit wie die Debatte angelegt, sondern auf Ausgewogenheit. Gewogen wird das, was durch politischen Mehrheitsentscheid Platz nehmen darf, so in den Gremien wie in den Leitungspositionen.  
Wer einen öffentlichen Rundfunk oder – weitergedacht – öffentliche Medien will, die sich selbst organisieren und entwickeln, der muss dieser Organisation mit Vertrauen begegnen – und nicht von Vertretern aus Staatkanzleien beaufsichtigen lassen. Selbstorganisation ist nötig, damit sich der öffentliche Rundfunk zu einem dynamischen Akteur, zu einem öffentlichen Medium der sich globalisierenden Kommunikationsgesellschaft entwickeln kann. Dazu gehört ein höheres Mass an Autonomie. Die Verpflichtung auf die Gesellschaft kann dann nicht nur, sie muss auch eingefordert werden, so indem die Rundfunkanstalten Organisation- wie Programmziele kommunizieren, diese evaluieren lassen. Und der öffentliche Rundfunk muss zu einem Dauerdialog mit den Gebührenzahlenden gezwungen werden.  
Der öffentliche Rundfunk bedarf einer grundlegenden Reform, einer Reform an Haupt und Gliedern, aber er selbst ist zu diesem Wandel zu verpflichten und zu ermächtigen. Öffentliche Medien sind zu wichtig, um sie allein politischen Interessenorganisationen anzuvertrauen. Aus dem öffentlichen Rundfunk könnte ein öffentliches Medium werden, im Dialog mit der Gesellschaft und in beständiger Interaktion mit allen gesellschaftlichen Akteuren. Für ein öffentliches Medium bedarf es entsprechender Leitbilder. Diese können nur in einer allgemeinen gesellschaftlichen Debatte entstehen. Noch hat der öffentliche Rundfunk Anerkennung und Reputation, um Neues zu wagen. Die Freiheit aber hat ihm die Politik erst noch zu gewähren.  

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