Radio als Mäzen anarchischer Momente

Tina Klatte

Der Sender ist noch nicht verrückt geworden
Von Tina Klatte

Jeder macht was ihm gefällt. Der Sender ist verrückt geworden!“ So tönt es am 24. Oktober 1924 aus dem Frankfurter Rundfunk in den Äther. Zwei Störenfriede dringen ins Studio und unterbrechen das abendlichen Kulturprogramm. Zuerst betritt die „Märchentante“ den Senderaum und fordert, die Sendezeit für eine Gute-Nacht-Geschichte freizugeben, sei es dass diese nur das Ohr eines einzelnen Kindes erreicht. Ihr folgt der „Zauberer“, der verlangt, seine Künste den Hörerinnen zu präsentieren, und dessen Magie den Sender tatsächlich hörbar in völlige Unordnung versetzt. Diese „Zauberei auf dem Sender“ ging als erstes deutsches Hörspiel in die Radiogeschichte ein. Ein knappes Jahr nach der ersten öffentlichen Radiosendung aus dem Berliner Vox-Haus. In seinem „Versuch einer Senderspiel-Groteske“ inszenierte der künstlerischer Leiter  des Frankfurter Rundfunks, Hans Flesch, eine zwanzigminütige Störung des Sendeablaufs. Das Hörspiel präsentiert sich als ein Experiment mit dem noch jungen Medium. Ein Experiment, das nach genuin radiokünstlerischen Ausdrucksmitteln sucht.

Dabei ist es aber auch eine Kritik an dem Korsett, in das der staatliche Rundfunk das Radio zwängt. Märchentante und Zauberer konfrontieren den Programmdirektor und das Programm mit Ansprüchen an das Medium, die im vorprogrammierten Bildungs- und Kulturauftrag der Sendeanstalt so nicht vorgesehen sind: Sie verlangen ein Radio, das sich nicht an mutmaßlichen Zielgruppen und an ihren vermeintlichen Bedürfnissen orientiert. Und sie verlangen ein Radio, das zum Spiel mit der Realität einlädt. Der bevormundende Distributionsapparat Radio soll zu einem Werkzeug der Kommunikation und Imagination werden. Und da der Schalter zum Abstellen des Senders kaputt ist, wird die Aushandlung dieser Forderungen für alle hörbar on air ausgetragen. Mit Fleschs „Senderspiel“ beginnt die „Radiokunst“ als ein Experiment mit dem Medium selbst. Dabei wird eine Nutzung des Radios vorgeschlagen, die auch nach hundertjähriger Radiogeschichte nicht an Aktualität verloren hat, weil sie nicht eingelöst ist.   Gegen die immergleiche „alte, fröhliche Musik“ eröffnen die Störenfriede in Fleschs Hörspiel einen Radioraum, der erst mit ihrem Auftreten ein öffentlicher genannt werden kann. Ein öffentlicher Raum lässt Einzelne in ihrer Verschiedenheit in Erscheinung treten.

Ein Radio des 21. Jahrhunderts kann diese Art der Öffentlichkeit ernst nehmen und verwirklichen, wenn es diese Einzelnen als Experten ihrer Lebenssituationen, ihrer Anliegen, ihrer Fragen selbst senden lässt.  Dass dies im Verlauf der Radiogeschichte bereits geschah, dass Einzelne ihr Anliegen im Radio veröffentlichen, ohne dass sie danach gefragt werden, steht aber in einer anderen als der öffentlich-rechtlichen Radiogeschichte. Es steht in einer Radiogeschichte, die beginnt bei den Aktionen des Arbeiterradio-Bundes und führt über die Piratensender der 70er Jahre zu den Radiosendern, die sich heute selbst „freie Radios“ nennen. Hier kommt es auf das Sprechen der Sendenden an, weniger auf die Befriedigung der Hörenden. Was nicht heißt, dass sich dieses Radio völlig regellos und jenseits von Statuten vollzieht. Aber dieses „freie Radio“ versteht sich im besten Fall als ein Werkzeug derjenigen, die etwas zu sagen haben und damit einen Anspruch auf Gesellschaft formulieren. Märchenerzählerinnen können ebenso das Mikrofon ergreifen wie Zauberinnen, Künstlerinnen können das Instrument Radio ebenso nutzen wie Wissenschaftlerinnen. Aus ihren Stimmen ergibt sich auf dem Frequenzband ein öffentlicher Raum, der aus verschiedenen Perspektiven hört, spricht und sich wiederspricht. Der Rundfunk hat das Potential zur Durchbrechung der „stabilen Mauern“, die Gruppen, Schichten, Klassen und Bezirke einer Gesellschaft „schalldicht“ voneinander trennen. Das erkennt der Medientheoretiker Rudolf Arnheim bereits 1932.

Dieses Potential hat das Radio immer noch. Im Gegensatz zum Internet, einem Distributions- und Kommunikationsmedium, an dem sich das Radio heute messen will. Das Internet ist beliebig und hält diese schalldichten Mauern als Blasen aufrecht. Hier senden alle und wenige hören zu. Oder man findet nur, was man ohnehin schon gesucht hat. Das Radio formt dagegen eine Öffentlichkeit, die allseits zugänglich und zugleich begrenzt ist. Das Radio kann damit eine Relevanz herstellen, die nicht hieße wahllos alle, aber viele unterschiedliche zu Wort kommen zu lassen. Wenn das Radio seine Technik nicht obsolet werden lassen will, dann sollte es seine Öffentlichkeit nicht nur symbolisch abhandeln. Das Equipment für die Aufnahme oder auch für das Live-Senden haben alle schon als Smartphones in der Tasche. Nur die Sendeplätze und Frequenzen müssten noch für ihre Anliegen freigegeben werden.

Eine weitere Verrückung des Radios in Richtung Zukunft wäre, seinen Ereignischarakter ernstzunehmen. Radio ist ein Medium der Echtzeit. Sendende und Hörende befinden sich zugleich in einem Zeitablauf. Flesch selbst hat richtig bemerkt, dass sich das Erleben dieser Gleichzeitigkeit nur durch ein „wirkliches Ereignis“ rechtfertigt. Und folgerichtig hat er dieses Ereignis als Störung eines Programms inszeniert, das zwar live aber dennoch vorprogrammiert über den Äther geht. Ein Live-Radio des 21. Jahrhunderts, das sich tatsächlich dem Moment preisgibt, wäre eine Chance, Radio zum Labor für gesellschaftliche Aushandlungen zu machen. Das meint nicht leichtfertig oder unvorbereitet mit dem Live-On-Air-Moment umzugehen. Es meint vielmehr, den Zeitablauf für konzentrierte Aushandlungen zu öffnen, in der auch Störungen und Unvorhergesehenes möglich sind. Wenn dieser Ereignischarakter des Radios sinnhaft genutzt werden soll, dann bedeutet das gleichermaßen auch, das Studio zu öffnen, die Telefonkanäle freizuschalten, oder das Studio gen Straße zu verlassen:

Sie schalten das Radio ein und Ihnen wird ein Interview mit einem gewissen „Hauser“ angekündigt, der jedoch offenbar lieber schweigen als sprechen möchte; und plötzlich geräuschvoll, klirrend, kreischend das Studio verlässt und in die nächtliche Stadt verschwindet. On Air eröffnet sich ein chaotischer Hörraum, es brüllt und jauchzt, ein Demonstrationszug zieht vorüber, Gesang und Vogelkreischen. Was passiert da?, mag sich die imaginäre Radio-Hörerin fragen. Ist das „real“ oder ist das „Fiktion“? Und wenn Sie jetzt das Fenster öffnet, oder das Haus verlässt, könnte dieser Hauser ihr über den Weg laufen. Was sie hört, ist, wie das Radio die öffentliche Ordnung infrage stellt, on air und off air. Was sie hört, ist eine Radiosendung des Performance-Künstlers Ralf Wendt während des Radio Revolten Festivals in Halle Saale. An anderer Stelle mag diese imaginäre Radio-Hörerin auf dem Marktplatz der Stadt einer Gruppe von Menschen begegnen, die mit Radios und Lautsprechern behangen sind. Sie fügen der Innenstadt eine sich sträubende Geräuschkulisse hinzu, die mal melodisch, mal lärmig, sich in Schleifen durch die Straßen zieht. Die Radiomacherinnen scheinen diese Klänge mit ihren Telefonen zu bedienen. Was soll das sein? Eine Demonstration oder eine Kunst-Performance?, mag sich die imaginäre Hörerin fragen, die Zeugin geworden ist einer Radiosendung des Komponisten und Klangkünstlers Andre Damiao auf Radio Corax. Die Radio-aktionen dieser Künstler tragen das Radio in den öffentlichen Raum der Stadt. Sie laden ein zu einer Verwirrung der alltäglichen Wahrnehmung und zu einem Spiel mit der Realität. Dabei wird nicht nur ins Radio übertragen, was die Künstlerinnen im Klang- und Begegnungsraum der Stadt hervorrufen, sondern auch die Radio-Eregnisse werden in den Stadtraum gespielt.

Wie es sich Fleschs Zauberer wohlmöglich erträumte, wird das Radio hier zu einem Kommunikations- und Imaginationsapparat, der mit radiophonen Mitteln der Gleichzeitigkeit und der Reproduktion die Realität zu kritisieren und zu gestalten vermag. In Fleschs Zauberei darf diese Intervention in die Wirklichkeit, diese Kritik der Realität nur inszeniert stattfinden. Denn was der staatliche Rundfunk nicht sollte und durfte, ist den Status Quo gesellschaftlicher Wirklichkeit verändern. Unter dem „Als-ob“ der Kunst aber kann dieser anarchische Umgang mit dem Radio on air gehen. Dieses „Als-ob“ der Kunst ist jedoch im Radio weniger eindeutig als im Ausstellungsraum, in der Galerie oder im Kino. Das Radio muss die künstlerische Praxis nicht als Werk kennzeichnen und kann Künstlerinnen als Radiomacherinnen unter anderen Radiomacherinnen einladen. Bekanntermaßen liegt darin eine chaotische Gefahr, für die Orson Welles Hörspiel „The War of the Worlds“, Der Krieg der Welten, wohl das populärste Beispiel gibt. Doch wenn Künstlerinnen Radio machen, ohne dass dies dem Vorsatz des „Kunst-Radios“ oder der „Radio-Kunst“ unterstellt ist, dann muss Kunst keine Ware sein, die sich leichtfertig konsumieren lässt. Der „Kunst“ das Label zu entziehen, heißt damit nicht, sich einseitig der Dialektik des Statthaltertums oder des Als-ob der Kunst entziehen zu wollen. Es heißt auch nicht, sich gar nichts mehr von Kunst zu versprechen. Es heißt, im Gegenteil, ihr noch einen größeren Stellenwert einzuräumen.

Sicherlich ist auch das „alte, fröhliche Lied“ als Unterhaltung des einsamen Hörers eine tröstliche Form des Radiomachens. Aber dies sollte nicht anstelle echter Kommunikation stattfinden. Das Medium Radio sollte offen gehalten werden als ein Experimentierraum für Kommunikation und gesellschaftliche Situationen, die „sonst“ und „so“ nicht stattfinden. Künstlerinnen sind Experten der Verführung und der Erkenntnis, und sie können Experten dieses Experimentierraums Radio sein. Als diese sollten sie Zugang bekommen zu Sendeplätzen und Frequenzen, und zwar über den zugestandenen „Freiraum“ von Kunstradio-Programmen und temporären Kunstfestivalradios hinaus. Wenn Radio ein relevantes Medium für die Verhandlung gesellschaftlicher Wirklichkeit sein soll, dann sollte Radio, öffentlich-rechtliches wie freies, ein Mäzen anarchischer Momente im Sendeapparat sein.

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