Dauer: 29:54 Minuten
Audio-Nr: #4237
Inhalt: Am Samstag vor dem 2. Advent sitze ich in der Stadtbahn und befinde mich in Gedanken. Mein Aufnahmegerät in der schwarzen Tasche liegt neben mir auf dem Sitz. Ich suche nach einer Geschichte. Meine Gedanken graben, legen Erinnerungen frei. Da schiebt sich mir ein Hochhaus in den Sinn, eine Kreuzung, ich 12 Jahre alt, sonntags zu Besuch bei meiner Schwester im Wohnheim. Auf der Rückfahrt sind wir mit dem Auto daran vorbeigefahren. Dunkelheit, Großstadtlichter, Rücksitzbank, ein falscher Blick und mir wurde übel. Die Erinnerung an das Hochhaus wird so stark, dass ich beschließe dorthin zu fahren, wohlwissend, dass ich nicht einmal weiß, wo genau ich auszusteigen habe. Linie U7 führt daran vorbei, dass ist alles was ich weiß. Also starre ich aus dem Fenster, drücke auf "REC", was fast zu spät geschieht, denn das Hochhaus taucht schneller auf als gedacht. Ich steige aus der gelben Bahn und schalte im Kopf auf Intuition, und weil spontane Aktionen meist lebendiger sind, lasse ich mich von nun an überraschen, denn ich weiß nicht, was ich hier an diesem Ort überhaupt möchte... 16:10 Uhr
Skript: Stuttgart – Das Romeo Hochhaus Atmo Balkon, einsetzend Musik "Probing Brief", darüber nachf. Text: Da stehst du auf dem Balkon im 6. Stock, mit den Füßen auf Zehenspitzen, nach oben gezogenem Körper, dick eingepackt in eine Jacke, am Geländer fest klammernden Fingern gesteckt in Handschuhe – und visierst mit den Augen den S-Bahnhof Zuffenhausen in der Ferne: Industriegebiet, verlassene Bürohäuser, von der Bundestraße 27 blitzen Autoscheinwerfer, die Weinberge geben keinen Ton von sich, die Straßenlampe unter dir strahlt gemütlich gelbes Licht auf den Gehsteig. Dein Interesse gilt den ein und ausfahrenden Zügen. Eine S-Bahn schlängelt Richtung Ludwigsburg, eine andere nimmt bedächtig Fahrt auf in Richtung Stuttgart, nächste Station wird Feuerbach, letzter Halt vorm Tunnel. An manchen Abenden pfeift der Wind durchs Gemäuer, dringt der Stadtlärm nur gedämpft herauf an deine Ohren. Kriechende Kälte vergisst du auf deinem Beobachtungsposten, ein Schal funktioniert immer, warmer Atem raucht aus dem Mund. Drinnen sitzen die Eltern auf dem Bett und trinken Kaffee, die Schwester zum Tisch hin gebückt, schiebt die Tortenschaufel unter den braunen Kuchen, das Stück legt sich nieder auf den ausgestreckten Teller, als wäre es müde. Ich bin 12 Jahre alt. Es ist Wochenende. Wir besuchen meine Schwester im Wohnheim. Hier im Robert Bosch Krankenhaus lernt sie Krankenschwester. Lange ist das her. Atmo Straßenbahn, danach Atmo Kreuzung darüberr jeweils Sprecher 2018. Morgen ist der 2. Advent, stürmisch und wechselhaft soll er werden, also wie heute. Ich bin nicht sicher wo genau ich aussteigen muss, navigiere aus der Erinnerung: Da war ne Kreuzung, Schienen, das Auto holperte, links eine Straßenbahnhaltstelle, ein Hochhaus… an das Hochhaus erinnere ich mich noch genau. Wollte ich insgeheim dort wohnen und vom Balkon aus Straßenbahnen beobachten? (Atmo, Schozacher Str) Links entdecke ich das Hochhaus. Haltestelle „Schozacher Straße“. Ich frage mich, was ich hier möchte? (aussteigen, laufen, Auto mit lauter Musik) Hier an dieser Kreuzung sind wir damals mit dem Auto meist vorbeigefahren. Die Fußgängerampel zeigt rot. Um 16:12 Uhr ist die Dämmerung in vollem Gange. Auf der anderen Straßenseite, unter den hohen Buchen, steht ein kleiner Tannenbaum, geschmückt mit einer Lichterkette. Mühelos werden die Lampen in den nächsten Minuten heller und heller. Um die Kreuzung „Haldenrainstraße – Schozacher Straße“ erheben sich noch andere Hochhäuser, aber meines türmt am höchsten. 1,2,3,4,5,6,7,8,9,10,11,12,13,14,15,16 Balkone, Logias - schon hoch das Hochhaus. Oben drauf eine Dachterrasse. Je näher ich komme, desto mehr befüllt es meinen Blick, wächst, während ich zu schrumpfen fühle, das Hochhaus ragt in den grau grauen Wolken Himmel, mir um Hauslängen überlegen, ich zur Ameise mutiert. Weihnachtsschmuck behängt manch Fenster, die Elektrokerzen einer Pyramide leuchten festlich, gebastelte Papiersterne, eine Frau schiebt die Gardine von links nach rechts, stellt die kleine grüne Gießkanne auf das Sims. Das Hochhaus hat die besten Jahre hinter sich, die Farben muten an, als entschuldigten sie sich dafür, nicht mehr frisch zu sein: Weiß, inzwischen ergraut, ockerfarben, grün, rot, blau und violett abgenutzt, am bröckeln. Der letzte Regenguss hinterließ schwärzliche Stellen im Mauerwerk. Abwärts vom ersten Balkon zieht ein großer feuchter Fleck über den mausgrauen Eckpfeiler bis auf den Boden. Ein kleines Gerüst reckt empor in den 1. Stock, da wird wohl etwas ausgebessert. Die Apotheke im Erdgeschoss hat bereits geschlossen, samstags geöffnet von 8.30 bis 13 Uhr. „Apotheke im Romeo“ lese ich auf einem Schild. Links oben im Schaufenster leuchtet das rote „Apotheker A“, daneben ein grünes Kreuz. In der Auslage liegen lila Päckchen in unterschiedlichen Größen, dekoriert mit silberner Schleife. Wind fegt heruntergefallenes Laub bis in den Eingangsbereich, bis zur Haustüre wehen die wenigsten Blätter, die meisten hängen am Treppenansatz der unteren Stufe, sammeln sich, so als habe sie jemand zusammengekehrt und einfach liegenlassen. Die roten Marmorstufen münden im windgeschützten Hauseingang. Ampelphasen wechseln sich ab – rot – grün – rot – grün – eigentlich, weiß ich, was ich möchte und zwar: Hinein! Einmal mit dem Aufzug nach oben und wieder runter. Ist das verrückt? Rot – Grün Nichts bewegt sich hinter der lila gerahmten Glas Türe. Im beleuchteten Foyer hängen Briefkästen an der Wand. Sieht denn niemand nach der Post? Ich fühle mich beobachtet, über der Türe ist ne Kamera installiert, der entgeht nichts, nur eine Attrappe? Warte ich halt.. 16:27 Uhr. Die Klingeltaster links warten auch auf Berührung. Immer 6 Wohnungen teilen sich ein Stockwerk, zumindest sind so die Klingeln angeordnet. Über dem Hauseingang ist ein Schild angebracht, auf dem steht geschrieben in geschwungenen, gemalten, hellroten Buchstaben: Romeo. Mein Hochhaus trägt also einen Namen: Romeo. (türk. Hochzeit Autokorso, Hupe) Die lila Wollmütze passt zu der älteren Dame, die da drüben am Döner Geschäft vorbei ihren Geh-wagen schiebt, mühsam Richtung Ampel schlurft. Die beige Winterjacke und helle Jeans sind altmodisch. Neben der Bushaltestelle baumeln Kleiderfetzen im kahlen Geäst eines Baumes, wippen im Wind, wehen hin und her. Mich fröstelt. Unangenehm ist die Nass Kälte. Der Wind schlägt Plakate an die Eisengeländer, oben sind sie festgezurrt unten schwingen sie frei – Grande Revue, steht darauf – an der Litfaßsäule flattern Papierfetzen an den Stellen, die nicht mehr kleben. Endlich..– Jogginghose, weiße Schuhe mit roten Streifen, olivgrüne Jacke.. ein Mann um die 30 mit Glatze, zielstrebig geht er zur Briefkastenwand, öffnet einen Kasten, fischt Briefe heraus, ein Werbeprospekt fällt vor ihm zu Boden, ich winke, im Glas spiegele ich mich. (Einlass, kurzes Gespräch mit Hausbewohner) Ich: Hallo, Entschuldigung, ich nehme Geräusche auf, darf ich mit dem Fahrstuhl mal nach oben fahren? Bewohner: Ja klar, kommen sie. Nur der eine hier geht nicht, der hier geht, und dann gibt´s da noch einen Lastenaufzug mit dem können sie auch, der fährt auch hoch und runter. Also was sie wollen, hier oder da Lastenaufzug. Sie können ja einmal mit dem hoch und mit dem anderen wieder runter. Wollen sie mit? Kommen sie ruhig mit! Ich. Wie viele Stockwerke gibt´s? Bewohner: 17 (steigt aus) Also viel Spaß noch! 15. Stock, ich fahre bis ganz oben in 17 Ich gehe mal rechts.. Gerüche wabern durch den Gang, es riecht nach übergekochter Milch, als gäbe es gleich Grießbrei.. spärliches Licht. Treppenstufen führen nach unten. Niedrige Brüstung, über dem offenen Ausguck spannt ein Netz. Stockwerk 16 – Linoleum Boden. Hinunter nehme ich den Lastenaufzug. „Aufzug für 10 Personen, Baujahr 1956“, starke Neonleuchte. „Aufzug Nr 6606“, „800 kg“, Schild: „Von der Schachtwand zurücktreten“ und „Aufzug im Brandfall nicht benutzen“! Ich hätte in den Keller fahren sollen. Schatten an den Wänden. Helles Licht vom Foyer scheint durch 6 Bullaugen. Warum stieg die Frau eben in den Lastenaufzug? Im Foyer bestaune ich das große Mosaik an der Wand. Blautöne dominieren: Ein smarter Herr in rotem Kostüm führt eine Frau in weißem Kleid und schwarz wehenden Haaren zum Tanz. Engumschlungen. Verliebt. Verträumt. In der Ecke hockt ein Holzstuhl, drei vier Werbeprospekte liegen gefächert darauf. (Musik, Probing Brief) (Gespräch mit Frau im Foyer, Fahrstuhl) Frau: Hallo! Ich: Hallo! Frau: Messen sie die Lautstärke? Ich: Ich nehme die Geräusche auf, bin grad mit dem Fahrstuhl mitgefahren. Das ist noch so´n schöner alter, da gibt´s noch was zu hören. Frau: Ehrlich, da hört man alles, nicht? Ich: Ja, da hört man alles, jedes knacken. Frau: Und ich finde das übel mit diesem Knacken, ich habe nämlich eigentlich Angst davor. Ich: Warum? Frau: Na, erstens habe ich Angst vor der Enge, und vor der Höhe. Ich wohne im 13. Stock. Ich habe eigentlich keine Chance, weil laufen... scheiße oder? Aber jetzt lass ich erst mal die Familie vor. (Familie bedankt sich) Und ich finde das manchmal ganz ganz übel, auch die Geräusche, die ich da drin manchmal hör, weil ich auch diese enge Angst hab. Ich sage, wenn ich stecken bleibe - tödlich. Es ist absolut tödlich. Und ich finde es traurig in diesem Haus, dass ist das erste europäische Hochhaus, dass bewohnbar war. Und man hat hier null gemacht. Ich. Aus dem Jahre 76 oder? Frau: Nein, 50er Jahre. glaub 54 oder so was. Ich: Der Fahrstuhl ist von 76 Frau: Die wurden dann noch einmal aufgerüstet, aber seit dem. Und diese ganzen Eigentümer.. auch die Fassade außen.. sieht man ja hier die Gerüste, die da stehen - die stehen nicht da weil da was gemacht wird, sondern weil es von oben runter fällt. Ist traurig. Ich habe schon gesagt, irgendwann fällt mir mal die Decke überm Kopf zusammen. Wirklich.Ich habe da wirklich Panik. Ich wohne jetzt seit.. was haben wir jetzt ´18? seit 2 Jahren hier im Haus und fühle mich hier nicht wohl. Überhaupt nicht. Garnicht. Da könnte ich meine Wohnung umgestalten wie ich wollte, wohlfühlen würde ich mich trotzdem nicht. Und das finde ich richtig trautig. Ich: Möchten sie irgendwann mal wieder wegziehen? Frau: Würde ich schon gern. Das Problem ist nur, die Wohnung die ich hab ist billig, die gehört meinem Schwiegervater. Und der kämpft auch dafür, dass da was geändert wird. Aber wenn die anderen alle sagen: Nö, machen wir nicht, zu teuer... hm, so einfach ist das. Und das ist wirklich traurig, dass die Gefährdung der Menschen, die hier im Haus wohnen, in Kauf genommen wird. Ich: Drücken wir nochmal drauf. Frau: Dankeschön. Der braucht eh ne Weile bis er oben ist. Ich: Ja, er braucht ein paar Sekunden. Frau: Deswegen brauch ich immer ein paar Sekunden bis ich drauf drücke, weil meistens benutze ich auch den Lastenaufzug, also nebenher, aber da haben manche Leute die Idee, da lassen sie noch die Türe noch offen, weil sie jetzt gleich wieder einsteigen wollen, und dann stehen alle da, so ist es. Ich: Ja, aber für die Aufnahme sind es halt doch schöne Geräusche, die er macht. Frau: Ich finde sie nicht so schön. Ich: Verstehe ich. So, dann fahre ich grad nochmal mit. Frau: Jawoll. Und bitte nicht hoppen! Ich: ich mach nichts. Frau: Das haben meine Kinder immer.. Mama, kuck mal! "Hör sofort auf" Ich: Weil, wenn sie dann hüpfen wackelt ja die ganze Kabine mit. Frau: Bei mir kommt dass daher, meine Oma hat auch im 12. Stock gewohnt. Und da bin ich einmal mit 11 Jahren steckengeblieben. Und ich bin da 2 Stunden lang drin gesteckt. Damals war das wirklich.. erstens war die Panik da ich in dem engen Raum, ich muss da hoch, meine Oma wartet auf mich mit dem Mittagessen. Ich bin nach oben gekommen und habe erst mal einen Anschiß bekommen, weil meine Oma ja nicht einmal etwas davon wusste. Oh. Und da kommt die ganze Geschichte her. Ich: Dann wünsche ich ihnen noch ein schönes Wochenende! Frau: Danke, auch so! Ich: Dankeschön, bis denn! Tschüß! Frau: Tschüß! Ich vergesse „Schöne Weihnachten“ zu wünschen. Ich vergesse zu fragen, ob sie trotz ihrer Ängste wenigstens die Aussicht genießt und, ob sie manchmal vom Balkon aus nach den Straßenbahnen sieht? 17:12 Uhr. Und wo steckt eigentlich Julia? Musik: Probing Brief, einsetzend darüber folgender Text Zuhause entdecke ich Julia, auf einem Foto, schwarz weiß. Es befindet sich auf Seite sechsunddreißig im Jubiläumsbuch 150 Jahre Stuttgarter Straßenbahn. Julia liegt neben Romeo, von den Maßen her ist sie rund und kleiner, niedriger und schaut hinauf zu ihrem Liebhaber. Zwei Hochhäuser sind es. Nebeneinander. Ein Architekt erschuf und wollte beide. Ein Liebespaar in luftiger Höhe – titelt die Stuttgarter Zeitung. Und endlich ergibt auch das Mosaik im Foyer einen Sinn: Das sind Romeo und Julia, die da beschwingt tanzen und das seit über 60 Jahren. Nur der linke Fahrstuhl streikt, ist offensichtlich defekt, bis Mitte Januar. Ersatzteile sind bestellt, befinden sich im Lieferverzug – Aufzug Außer Betrieb! Musik bis Schluß 29´57´´ .-.-.-.-.-.-.Auf der Suche nach einer Geschichte - Begegnung mit Romeo als MP3 Download
#4238 / O-Ton / ohne Geodaten / Schweden
#4239 / O-Ton / ohne Geodaten / Schweden
#4240 / O-Ton / ohne Geodaten / Schweden
#4246 / Feature / ohne Geodaten / Dokublog
Zum Autor: Andreas Fritz... noch neu hier... Radio-Feature sind klasse :)) Brötchen verdiene ich als Triebfahrzeugführer bei der Deutschen Bahn. Georges Perec ist mein Vorbild (Buch: Der Versuch einen Platz in Paris zu erfassen). Mit Aufnahmegerät, Notizblock ziehe ich los, notiere, was ich sehe, nehme auf, was das Mikrofon fängt. Texten, Basteln, Komponieren. Welches Projekt mache ich als nächstes?
Website: https://hejandi.wixsite.com/my-site-6
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